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Afghanische Lehren

7. Oktober 2011

Am 7. Oktober 2001 schlugen in Afghanistan die ersten US-Bomben ein. Was als schneller Feldzug gedacht war hat sich zehn Jahre später in einen Krieg mit unklaren Fronten verwandelt. Welche Lehren sind zu ziehen?

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Bundeswehrsoldaten in Afghanistan (Foto: AP)
Frieden schaffen mit Waffen?Bild: AP

Die Terroranschläge vom 11. September liegen noch keinen Monat zurück. Die USA haben das Taliban-Regime in Afghanistan ultimativ aufgefordert, alle Beziehungen zum Al Kaida-Netzwerk zu beenden und Osama bin Laden auszuliefern. Doch nichts passiert. Und die Verantwortlichen verlieren schließlich die Geduld.

Der Freund der Afghanen

Am 7. Oktober 2001 tritt US-Präsident George W. Bush im Weißen Haus mit entschlossener Miene vor die Presse und erklärt, dass das US-Militär damit begonnen habe, "Trainingslager von Al Kaida und militärische Einrichtungen des Taliban-Regimes in Afghanistan anzugreifen." Bush betont, dass nur sorgfältig ausgewählte Ziele im Visier seien. "Die Vereinigten Staaten sind ein Freund des afghanischen Volkes. Wir sind die Freunde der fast eine Milliarde Muslime weltweit." Doch die USA seien "der Feind all derjenigen, die Terroristen unterstützen und die eine große Religion für ihre barbarischen Verbrechen missbrauchen."

Hamid Karsai und George W. Bush 2006 (Foto: AP)
George W. Bush und sein afghanischer Partner Hamid KarsaiBild: AP

Ein durchdachtes, politisches Konzept gab es zu Beginn der Intervention nicht. Die von Rache getriebenen USA und ihre Verbündeten glaubten an einen schnellen Siegeszug. Die internationale Afghanistan-Schutztruppe ISAF umfasste am Anfang nur etwa 5000 Soldaten und war auf Kabul beschränkt. Jenseits der Hauptstadt machten Spezialkommandos der 'Operation Enduring Freedom' (OEF) Jagd auf Al Kaida und Taliban. Zehn Jahre später sind ISAF und OEF verschmolzen.

An der internationalen Afghanistan-Mission sind inzwischen über 130.000 Soldaten aus 48 Nationen beteiligt. Deutschland gehört mit rund 5000 Bundeswehrsoldaten zu den größten Truppenstellern.

Der Bart bleibt dran

Die Intervention hat dem kriegsgeplagten Land eine neue Verfassung gebracht. Millionen von Bürgerkriegsflüchtlingen sind in ihre Heimat zurückgekehrt. Es sind Milliarden in Straßen, Schulen, Universitäten und Krankenhäuser geflossen. Vor allem die Hauptstadt Kabul erlebt seit dem Sturz des Taliban-Regimes im November 2001 einen fulminanten Bauboom. Der Westen finanziert den afghanischen Staat, seine Regierung und seine Sicherheitskräfte. Doch von Sicherheit, Frieden, Stabilität und Versöhnung ist das Land unverändert weit entfernt.

US-Soldaten auf Patrouille an der afghanisch-pakistanischen Grenze (Foto: AP)
US-Soldaten auf der Suche nach dem FeindBild: AP

Thomas Ruttig, Ko-Direktor des Afghanistan Analysts Network, erinnert sich in diesen Tagen oft an eine frühe Begegnung in Kabul, die er mit einem Putzmann der Vereinten Nationen hatte. "Eines Tages hat er mir erzählt, dass er eigentlich Meteorologie studiert hat an der Universität Kabul, doch er machte bei uns sauber. Er sagte zu mir: 'An dem Tag, an dem die Taliban fallen, werde ich mir meinen Handrasierer nehmen und mir meinen Bart abschneiden. Die Haare meines Bartes werde ich in einen kleinen Beutel packen und mir als Mahnung irgendwo hinhängen'. Dieser Mann hat bis heute einen Bart."

Eine bemerkenswerte Kehrtwende

Thomas Ruttig ist einer der wenigen westlichen Experten, der die beiden Landessprachen Dari und Paschtu beherrscht. Heute betrachtet er die Intervention als Wissenschaftler von außen. In den ersten Jahren hat er sie von innen betrachtet - als Mitarbeiter der Afghanistan-Missionen der Vereinten Nationen und der Europäischen Union. "Es ist erklärbar und verständlich, dass die Amerikaner interveniert haben, und es sind auch die politischen Gründe bekannt, warum die wichtigsten Alliierten sich angeschlossen haben."

Doch was für den Afghanistan-Kenner viel entscheidender ist: auch die afghanische Bevölkerung habe die ausländische Intervention gegen das brutale Regime der radikal-islamischen Taliban unterstützt. "Es hat tatsächlich zum ersten Mal in der Geschichte Afghanistans Beifall für eine auswärtige militärische und zivile Intervention gegeben, ausdrücklich auch für die militärische Seite. Das ist äußerst bemerkenswert, und es ist äußerst bemerkenswert, wie sich das bis heute gedreht hat."

Thomas Ruttig, Ko-Direktor des Afghan Analyst Network (AAN) in Kabul (Foto: SWP)
Thomas Ruttig: "Es gab zum ersten Mal afghanischen Beifall."Bild: SWP Berlin

Die afghanische Entwicklung ist der Logik des Krieges gefolgt: Immer mehr Aufständische. Immer mehr Soldaten. Immer mehr Soldaten. Immer mehr Aufständische. Die Friedensdividende ist verpufft. In weiten Teilen Afghanistans herrscht heute ein asymmetrischer Krieg mit unklaren Fronten, in dem immer mehr Zivilisten durch Gewalt und Terror sterben.

Afghanischer Dauerkrieg

Es hat in den vergangenen zehn Jahren weder eine konsequente Entwaffnung gegeben noch ist ein Versöhnungsprozess zwischen den verschiedenen Volksgruppen und ihren Clans angestoßen worden, die gegeneinander instrumentalisiert werden. Die Afghanen hatten bereits über 20 Jahre Krieg hinter sich, als der Westen einmarschierte – sie kämpften zuerst gegen die sowjetischen Besatzungstruppen und dann gegeneinander. Dieser Bürgerkrieg ist bis heute nicht gelöst und wird aus dem Ausland angefacht.

Gunter Mulack, Deutschlands ehemaliger Botschafter in Pakistan, kennt Afghanistan von unzähligen Reisen. "Die zentrale Lehre ist, dass wir heute mit militärischen Mitteln keinen Sieg mehr erreichen. Wir müssen, wenn wir die Herzen und Köpfe gewinnen wollen, viel stärker auf die entwicklungspolitische und bildungspolitische Zusammenarbeit setzen. Es geht um die Herausbildung künftiger Führungseliten. Da hätte man in Afghanistan viel mehr investieren müssen, um Vertrauen zu gewinnen."

Ex-Botschafter Mulack ist heute Direktor des Deutschen Orient-Instituts in Berlin. Im Jahr 2009 schickte ihn die EU als Beobachter zur afghanischen Präsidentschaftswahl, bei der nachweislich grob gefälscht wurde, ohne dass das Folgen gehabt hätte.

Ex-Botschafter Gunter Mulack (Foto: dpa)
Gunter Mulack: "Es war wie ein Sandkasten"Bild: dpa

Mulack hat die Fälschung damals scharf kritisiert - und ist sich dennoch sicher, dass man den Afghanen von Anfang an ein größeres Selbstbestimmungsrecht hätte einräumen müssen, "damit sie selber sagen können, was in ihren Augen das Beste für ihre Zukunft ist." Stattdessen habe ein vielstimmiger westlicher Chor entschieden, was in Afghanistan zu passieren habe. "Es war wie ein Sandkasten, wo dann viele von uns meinten, dass wir da jetzt mal einen ganz modernen Staat bauen."

Im Dienst der Aufstandsbekämpfung

Obwohl gerade die europäischen NATO-Staaten gerne die zivile Seite der Intervention hervorheben, sei Afghanistan ein durch und durch militarisiertes Land geblieben, betont Thomas Ruttig vom Afghanistan Analysts Network. "Das US-Militär hat gerade in den letzten fünf, sechs Jahren die Regie über sämtliche Bereiche Afghanistans übernommen. Das hat alle anderen Bereiche zu Dienstfunktionen der Aufstandsbekämpfung gemacht, und das ist falsch."

Neben Präsident Hamid Karsai und seinem Clan profitieren vor allem die mächtigen Kommandanten der Nordallianz vom Engagement des Auslands. Als die westliche Intervention im Oktober 2001 begann, hatte die afghanische Taliban-Bewegung dieses fragile Zweckbündnis fast besiegt. Doch heute fühlt sich die Nordallianz als Sieger.

Ihre Anführer sind Verbündete des Westens und sichern mit allen Mitteln ihre Macht. Viele sind in Korruption und Drogenhandel verstrickt. Viele haben nach dem Abzug der sowjetischen Besatzungstruppen 1989 aus Machtgier gegeneinander gekämpft und dabei menschenverachtende Verbrechen begangen. Damals, nach dem Sieg über das kommunistische Regime, versank Afghanistan in einem bestialischen Bürgerkrieg, der schließlich die Taliban an die Macht spülte.

Tauben vor einer Moschee in der Altstadt von Kabul (Foto: dapd)
Auch in Afghanistan sind Tauben ein Symbol des FriedensBild: dapd



"Die afghanische Bevölkerung hat kein Vertrauen in das politische System", sagt Südasien-Expertin Citha Maaß. Die internationale Gemeinschaft habe in Zusammenarbeit mit Präsident Karsai ein Wahlgesetz ins Leben gerufen, das politischen Parteien keine Rolle gebe. "Deswegen kann sich die große Mehrheit der afghanischen Bevölkerung politisch nicht artikulieren."

Citha Maaß von der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin hat sich im September nach vielen Jahren aus der Afghanistan-Forschung zurückgezogen. Sie fasst die aktuelle Lage am Hindukusch so zusammen: "Das Ergebnis nach zehn Jahren Engagement ist, dass die lokalen Kommandanten, die früheren Kriegsherren, ihre Macht weiter ungebrochen ausüben können. Ich würde sagen, die Intervention ist gescheitert." In ihrer Stimme klingt Verbitterung mit.

Zur politischen Geisel gemacht

Maaß ist sich sicher, dass es dem westlichen Bündnis heute nur noch darum geht, die Verantwortung für Afghanistan so schnell wie möglich an die Afghanen zurückzugeben. "Das ist ein Übergabeprozess, in dem sich die internationale Gemeinschaft, indem sich vor allem die Amerikaner zu politischen Geiseln von Präsident Karsai und den von ihm kooptierten Regionalfürsten gemacht haben."

Die internationale Gemeinschaft könne keinen Druck mehr auf die afghanische Regierung ausüben, zum Beispiel gegen die Korruption vorzugehen oder den Drogenhandel stärker zu bekämpfen, so die Wissenschaftlerin. "Diese afghanische Regierung mit ihren korrupten Strukturen ist diejenige, an die wir die Sicherheitsverantwortung und die politische Macht übergeben wollen." Tatsächlich ist es unübersehbar, wie der Westen das Tempo der Übergabe der Verantwortung in afghanische Hände forciert.

Citha Maaß von der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin (Foto: DW/Sandra Petersmann)
Citha Maaß: "gescheiterte Intervention"Bild: DW

Osama bin Laden ist tot. Pakistan, Jemen und Somalia sind in den Fokus des Anti-Terror-Kampfes gerückt. Afghanistan hat global an Bedeutung verloren. Die USA und ihre Verbündeten sind hoch verschuldet und wollen ihre Kampftruppen bis 2014 vom Hindukusch abziehen. Außerdem stehen in den USA, Frankreich und Deutschland bald nationale Wahlen an - und der Afghanistan-Krieg ist in Amerika und Europa gleichermaßen unpopulär.

Wer soll mit wem verhandeln?

"Afghanistan ist in jedem Fall ein Musterfall für Interventionen, die aus Motiven durchgeführt werden, die in den intervenierenden Staaten liegen. Dabei werden die strukturellen und gesellschaftlichen Ursachen in dem Land, in dem die Intervention durchgeführt wird, nicht berücksichtigt", resümiert Citha Maaß in Berlin.

Ihr Kollege Thomas Ruttig in Kabul kommt zu einem ganz ähnlichen Schluss. "Wir haben in Afghanistan gelernt, dass wir keine tauglichen Mittel haben, große Regionalkonflikte einfach mal so zu entschärfen. Die UNO hat nicht funktioniert, die Nato funktioniert dort auch nicht, und wir haben keine andere Organisation, die es kann."

Im kriegsmüden Westen gelten Verhandlungen mit den Taliban heute als Gebot der Stunde. Die verschiedenen Gruppen der radikal-islamischen Bewegung haben sich im pakistanischen Grenzgebiet neu formiert und an Stärke gewonnen. Die Taliban um Mullah Omar verfolgen nach Meinung des Auslands afghanische und keine globalen Ziele.

Der Krieg in Afghanistan hat jedoch nach Meinung des Berliner Islamwissenschaftlers Peter Heine Muslime auf der ganzen Welt mobilisiert. "Die Islamizität, also das Bewusstsein, Moslem zu sein und dem Westen gegenüber zu stehen, hat sich ganz sicher verstärkt."

Peter Heine, Islamwissenschaftler an der Humboldt-Universität (Foto: dpa)
Peter Heine: "Islamizität hat zugenommen"Bild: picture-alliance/ZB

In der muslimischen Perspektive habe sich die Vorstellung verfestigt, so Peter Heine, "dass der Westen aggressiv ist und dass er seine politischen, ökonomischen und strategischen Interessen immer durchsetzen wird - ganz egal, ob das richtig oder falsch ist."

Die afghanische Perspektive

Afghanistan ist weiterhin ein Anziehungspunkt für ausländische Dschihadisten: Die selbst ernannten 'Gotteskrieger' in den Reihen der Aufständischen kommen aus Tschetschenien und Usbekistan, aus Nordafrika und aus dem arabischen Raum, aus Großbritannien und aus Deutschland. Ein schnelles Kriegsende durch eine Verhandlungslösung wird es in Afghanistan nicht geben.

Ausländische Soldaten in der afghanischen Provinz Kunar im Feuergefecht mit Aufständischen (Foto: dpa)
Wer kann die Waffen zum Schweigen bringen?Bild: AP

Die radikal-islamischen Taliban sind genauso wenig wie das Karsai-Lager oder die Nordallianz eine homogene Gruppe. Es gibt unterschiedliche Fraktionen mit unterschiedlichen Zielen - und mit unterschiedlichen Helfern im Ausland. Vor allem das fragile Pakistan spielt eine entscheidende Rolle auf dem afghanischen Schlachtfeld.

Pakistan begreift sein Nachbarland als strategischen Rückzugsraum, falls es zum bewaffneten Konflikt mit dem Erzrivalen Indien kommt. Deshalb will die Atommacht sicherstellen, dass in Kabul eine Pakistan-freundliche Regierung an der Macht ist - so wie die Taliban. Präsident Hamid Karsai hingegen pflegt sehr freundschaftliche Beziehungen mit der Regierung in Neu Delhi, während er Pakistan beschuldigt, die afghanischen Aufständischen fernzusteuern.

Vieles deutet darauf hin, dass das kriegsgeschundene Land weiter in den Klauen der Gewalt bleibt. Die Afghanen werden zerrieben zwischen ihren internen Machtkämpfen und gegensätzlichen, auswärtigen Interessen. Aus strategischen und ökonomischen Gründen spricht nur wenig dafür, dass sich die USA militärisch komplett zurückziehen werden. Afghanistan könnte als Transitland für zentralasiatisches Öl und Gas eine wichtige Rolle spielen.

Darüber hinaus haben sich alle wichtigen Regionalmächte längst in Stellung gebracht. Neben Pakistan lauern auch Indien, Iran, China, Russland und die Türkei auf ihre Chance im Herzland Zentralasiens.

Autorin: Sandra Petersmann
Redaktion: Matthias von Hein