1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

"Die Libyer sind moderate Muslime"

Kersten Knipp26. Juni 2012

Der libysche Politologe Mustafa Fetouri hält die Sicherheitslage in seinem Heimatland für sehr zerbrechlich. Er setzt aber auf den Pragmatismus seiner Landsleute. In Libyen habe der Islamismus keine Zukunft.

https://p.dw.com/p/15Iv8
Libyer feiern den ersten Jahrestag der Revolution gegen Gaddafi (Foto: dpa)
Bild: picture alliance/dpa

Deutsche Welle: Herr Fetouri, die libysche Übergangsregierung hat große Schwierigkeiten, das Gewaltmonopol des Staates durchzusetzen. Insbesondere sieht sie sich mehreren Milizengruppen gegenüber, die ihr Machtmonopol bestreiten. Wie sehen Sie die derzeitige Situation?

Mustafa Fetouri: Die Milizen spielen eine immer größere Rolle. Mit einigem Erfolg versuchen sie von der Regierung so viele Zugeständnisse wie möglich zu erhalten. So nehmen sie Einfluss auf die Gesetzgebung, um möglichst hohe Vergütungen für ihren Beitrag während der Revolutionszeit zu bekommen - und zwar auf Kosten der übrigen libyschen Bevölkerung. Tatsächlich haben Übergangsregierung und Nationaler Übergangsrat einige Gesetze erlassen, die die Ansprüche der Milizen befriedigen. So etwa spricht ein kürzlich in Kraft getretenes Gesetz den Milizen Immunität für sämtliche Handlungen während und nach der Kriegszeit zu – und zwar auch solchen, die man als kriminell bezeichnen kann. Darunter fallen Raub, Entführung und andere Verbrechen dieser Art.

Was veranlasst die Regierung zu solchen Gesetzen?

Zunächst fehlen ihr schlicht die Mittel, um sich gegen die Milizen durchzusetzen. Außerdem hat sie Angst vor ihnen. Auch mangelt es ihr an politischer Glaubwürdigkeit. Darum zieht die Regierung es vor, den Vorstellungen der Milizen nachzukommen. Wie sich die Milizen verhalten, zeigte sich vor einigen Wochen, als sie das Haus des Premierministers angriffen. Einer der Wächter des Ministers wurde dabei getötet. Die Regierung wusste zwar, wer hinter dem Angriff steckt, doch sie tat nichts. Eine andere Milizengruppe besetzte Anfang Juni zwei Tage lang den internationalen Flughafen von Tripolis. Auch hier waren die Verantwortlichen bekannt. Aber auch da blieb die Regierung untätig.

Der Wissenschaftler und Publizist Mustafa Fetouri (Foto: Mustafa Fetouri)
Mustafa FetouriBild: Mustafa Fetouri

Worum geht es den Milizen im Wesentlichen? Was sind ihre Ziele?

Es geht ihnen um Macht. Die Milizen sind überzeugt, dass sie dazu beigetragen haben, das Regime Gaddafis zu stürzen. Das stimmt auch. Allerdings leiten sie daraus ab, dass es ihnen zustehe, das Land zu regieren - und zwar ausschließlich ihnen. Außerdem geht es ihnen um Geld - sie wollen Geld verdienen. Tatsächlich ließ die Regierung den Milizen Geld zukommen, als Anerkennung für ihre Verdienste während der Revolution.

Bei den Auseinandersetzungen geht es aber auch um politische oder ideologische Fragen.

Durchaus. Viele der Milizen haben ja einen islamistischen Hintergrund. Einige von ihnen verbrachten lange Zeit im Gefängnis, teils bis zu 20 Jahren – und zwar ohne jegliches Gerichtsverfahren. Dafür erhalten die Betroffenen nun teilweise mehrere Millionen Dollar Entschädigung. Aus vertraulichen Quellen weiß ich, dass es innerhalb der islamistischen Gruppierungen Absprachen gibt: Demnach sollen die ehemaligen Gefangenen 40 Prozent der Entschädigungssummen erhalten, während die restlichen 60 Prozent an die Gruppierungen selbst gehen. Das wird sie zu den reichsten politischen Kräften in Libyen machen.

Wie steht die Masse der Libyer zu den Milizen?

Im Allgemeinen sehen sich die Libyer als moderate Muslime. Sie sind keine Fundamentalisten, religiöse Gewalt lehnen sie ab. Dennoch hat man sie dazu gebracht, ein islamistisches Programm zu wählen. Das geschah, indem ihnen die entsprechenden Milizen bei ihren Problemen zur Seite standen. Man weiß bereits aus Tunesien und Ägypten, wie gut die Islamisten die Helferrolle beherrschen. Sie sind bestens organisiert und verstehen es, einen glaubwürdigen Eindruck auf die Bevölkerung zu machen. Allerdings glaube ich nicht, dass das lange gut gehen wird. Derzeit haben die Islamisten zwar einen gewissen Anteil an der Macht, aber der wird auch wieder schwinden. Ich schätze, in einigen Jahren werden die Libyer merken, dass die islamistische Agenda ihren Bedürfnissen nicht entspricht. Anders als die Tunesier und Ägypter bilden die Libyer aber eine Gesellschaft, die durch die verschiedenen Stämme strukturiert ist . Das wird auch zukünftig eine Rolle spielen.

Immer wieder ist ja auch von fundamentalistischen Terroristen die Rede, die in Libyen aktiv sein sollen. Was wissen Sie darüber?

Al-Kaida ist in Libyen und wird sich dort auch halten. Darum wird Libyen eine Art Sprungbrett der terroristischen Organisationen in der Region sein. Das Land läuft Gefahr, ein kleines Afghanistan zu werden. Die Terrorgruppen haben sichere Rückzugsgebiete, sie verfügen über Ressourcen, und sie haben auch eine gewisse politische Macht. Die Gruppen werden gewalttätig bleiben – nicht nur in Libyen, sondern auch in den Nachbarstaaten. In Algerien wurden vor kurzem einige libysche Terroristen zu lebenslangen Haftstrafen verurteilt. Sie hatten Waffen und Geld für Al-Kaida gesammelt. Außerdem hatten sie Terroristen ausgebildet, die dann in andere Staaten der Region, insbesondere Algerien, gehen sollten. Diese Gruppen werden der Region weiter zusetzen. Und Libyen wird lange brauchen, um dieser Gruppierungen Herr zu werden.

Bei der Bekämpfung dieser Gruppen setzen Sie auf internationale Unterstützung.

Ja. Libyen hat die Chance, zum Hauptsitz des AFRICOM-Kommandos zu werden, des Oberkommandos der amerikanischen Streitkräfte in Afrika. Gaddafi war strikt gegen dessen Präsenz in Libyen, und er drängte auch eine Reihe anderer afrikanischer Staaten, das Kommando nicht zu unterstützen. Jetzt aber kann Libyen AFRICOM unterstützen, vielleicht sogar zu dessen Hauptquartier zu werden. Denn Libyen braucht Unterstützung, um dieser Gruppen Herr zu werden. Und die einzigen, die diese Unterstützung leisten können, sind die Amerikaner.

Mustafa Fetouri ist Politologe und Publizist. Derzeit lebt er in Brüssel. 2010 erhielt er den von der EU vergebenen Samir Kassir-Preis für Pressefreiheit in der Kategorie "Bester Leitartikel".