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Die neue Zeit der Schiiten

Peter Philipp23. April 2003

In Kerbela demonstrieren die irakischen Schiiten nicht nur ihre religiösen Traditionen. Sie zeigen auch, dass sie an der politischen Macht im Land beteiligt werden wollen.

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Pilgerziel von Kerbela: die Grabmoschee des Imam HusseinBild: AP

Für die Hunderttausende irakischer Schiiten, die am Dienstag und Mittwoch (22./23.04.2003) in die heilige Stadt Kerbela an das Grab des von ihnen verehrten Imam Hussein gekommen sind, steht fest, dass in diesen Tagen eine neue Zeit im Irak angebrochen ist: Fast dreißig Jahre lang – auf jeden Fall während der 25-jährigen Gewaltherrschaft Saddam Husseins - hatten sie nicht auf diese Pilgerfahrt gehen dürfen.

Der Staatsapparat der "Baath"-Partei war klar auf einen säkularen Staat ausgerichtet, obwohl Saddam Hussein sich in den letzten Jahren zumindest auf einigen der unzähligen Plakate und Gemälde, die ihn überall im Land präsent hielten, auch immer wieder als gläubiger Moslem darstellen ließ. Religiöse Massenveranstaltungen waren aber auch aus Furcht vor Unruhen verboten worden – im Fall der Schiiten eine nicht unberechtigte Furcht, denn die Schiiten stellen zwei Drittel der knapp 25 Millionen Iraker. Politisch aber standen sie unter der Herrschaft der sunnitischen Minderheit und Versuche, dies zu ändern, endeten meist in blutiger Repression. Nicht erst, als die Schiiten im Anschluss an den Kuwaitkrieg mit Ermunterung Washingtons den Aufstand gegen Bagdad geprobt hatten und dann zu Abertausenden von den Regierungstruppen Saddams umgebracht worden waren. Schon früher war es Tradition im Irak, dass die Schiiten keine wichtigen Staatsämter erhielten.

Saddams Marionetten

Schiiten Pilger Kerbala Irak
Schiiten in KerbalaBild: AP

Bei der Niederschlagung des Aufstandes von 1991 ging Saddam nicht zimperlich vor: Ein Großteil des Stadtzentrums von Najaf – einer der beiden Heiligen Städte der Schiiten – wurde zerstört, die geistliche Führung der Schiiten umgebracht und durch regimetreue Marionetten ersetzt. Besonders stark zu leiden hatte der Familienclan der Sadr in Najaf: Alle namhaften Führer dieser Familie sind in den zurückliegenden 23 Jahren vom Regime umgebracht worden, dafür gehört die Gruppe um den erst 30-jährigen Muqtada al-Sadr, den Sohn des 1999 ermordeten Ayatollah Sadeq as-Sadr zu den populärsten Bewegungen im Irak: Sie hat das wichtigste schiitische Viertel Bagdads von Saddam-City in Sadr-City umbenannt und sie steht in vorderster Front bei der Forderung nach mehr politischer Beteiligung der Schiiten am künftigen Irak.

In Konkurrenz zur Sadr-Gruppe stehen die Anhänger des in Teheran stationierten "Obersten Rates für die Islamische Revolution im Irak" (SCIRI) unter Ayatollah Baqr el-Hakim. Diese Bewegung, die es sich zum Ziel gesetzt hat, eine islamische Republik nach iranischem Vorbild zu errichten, versucht jetzt auch wieder Fuß zu fassen im Irak. Unter anderem ist der jüngere Brüder ihres Anführers in den Irak zurückgekehrt und es gilt als sicher, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis es zu ersten Konflikten mit den Amerikanern kommt. Diese lassen im Augenblick zwar den Schiiten weitgehend freie Hand, sie sind aber mehr als skeptisch, dass der Iran versuchen könnte, über den SCIRI Einfluss im Nachbarland zu gewinnen.

Die "Dawa"

Eine dritte schiitische Bewegung, die "Dawa", ist bereits 1950 gegründet worden und hat die letzten Jahrzehnte im Exil und im Untergrund gefristet, stets verfolgt und dezimiert durch das Regime Saddam Husseins. Ihr Anführer, Mohamed Nasseri, ist in den Irak zurückgekehrt und versucht, seiner Bewegung nun zu mehr politischem Gewicht zu verhelfen. Und schließlich gibt es noch Ahmad Chalabi, den von Washington favorisierten Führer des "Irakischen Nationalkongresses" (INC), der selbst aus einer prominenten schiitischen Familie stammt, dem man aber kaum Chancen einräumt, die Schiiten des Landes hinter sich zu bringen.

Die Beteiligung der Schiiten am künftigen Irak wird also vermutlich unter den genannten drei Gruppen ausgemacht. Wobei fest steht, dass keine der drei ein "natürlicher Verbündeter" oder Freund der USA ist. Alle drei wissen zwar, dass ihr Wieder-Auftreten im Irak ohne die USA und den amerikanisch-britischen Krieg nicht denkbar gewesen wäre, aber alle werden sich – aus Überzeugung wie aus Pragmatismus – davor hüten, zu große Nähe zu den USA zu zeigen. Und es gilt als sicher, dass alle drei sich auch offen gegen die USA wenden werden, wenn diese die "irakische Gastfreundschaft" zu lange beanspruchen und sich zum Besatzungsregime entwickeln.

Offene Frage

Vorläufig völlig offen ist die Frage, wie der künftige Irak aussehen soll. Trotz immer wieder gehörter Rufe nach einer islamischen Republik dürfte diese Variante aber die am wenigsten wahrscheinliche sein. Selbst die Anhänger des SCIRI haben in Teheran miterleben können, wie leicht sich solch eine Verquickung von Politik und Religion in Widerspruch setzt zu den Interessen und Ambitionen des Volkes und dadurch eher eine Abkehr von der Religion erzeugt wird. Der künftige Irak soll wohl schon – und da dürfte es einen recht breiten Konsensus geben – auf Religion und Tradition basieren, natürlich auch auf Nationalstolz.

Er sollte – und wird – nun aber auch nicht umgekehrt werden in die Unterdrückung anderer Religionen durch die Schiiten. Bezeichnend hierfür sind Parolen, die nach Einheit zwischen allen Irakern rufen und da ganz besonders Schiiten und Sunniten. Es wäre falsch und verhängnisvoll, wenn Washington dies nicht verstünde.