1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Die Predigt im Stau

12. Dezember 2015

Eine erzwungene Pause kann zur eigenen Reflexion helfen. Zum Beispiel ein Stau. Gerhard Richter beschreibt für die evangelische Kirche, wie dabei plötzlich Jesus im Alltag auftauchen kann.

https://p.dw.com/p/1HLkW
Schweiz Basel Weihnachtsmarkt
Bild: Basel Tourismus


Stau auf dem Weg zum Weihnachtsmarkt
„Das hat uns gerade noch gefehlt – jetzt steh'n wir hier im Stau. Den Gospelchor auf dem Weihnachtsmarkt können wir vergessen!“ „Entspann dich doch,“ sagt mein Sohn. „Das wird sich schon wieder auflösen. Was ist denn da überhaupt los? Ich mach mal das Radio an.“ „Was redet der da? 'Bereitet dem Herrn den Weg!' - ja, das wäre jetzt recht. Wenn einer käme und würde die Fahrbahn frei räumen.“ „Vater, es heißt: Bereitet dem HERREN den Weg. - Nicht dir!“ „Aber nötig hätten wir das auch.“ Wir stehen im Stau, hören Adventslieder im Radio und draußen wird es langsam dunkel. So habe ich mir den dritten Advent nicht vorgestellt. Ich wollte auf dem Weihnachtsmarkt gemütlich einen heißen, duftenden Glühwein schlürfen. An der Bühne hätte ich gestanden und dem Gospelchor unserer Kirchgemeinde gelauscht. Aber jetzt steh ich hier in der stinkenden Blechlawine. Vor mir Stau, hinter mir Stau – kein Entkommen.

Die Radiopredigt
„Eine Stimme ruft in der Wüste: Bereitet dem Herrn den Weg. Ebnet ihm die Straßen,“ tönt es aus dem Radio. So einen Rufer in der Blechwüste hätte ich jetzt wirklich brauchen können. „Wenn ich heute diesen Ruf des Johannes höre, dann geht es nicht darum, dass ich problemlos ans Ziel komme. Dann geht es darum, Jesus einen Weg zu mir zu bereiten.“ Der Prediger im Radio hat gut reden. Ich habe mir das schon gedacht, dass es wieder nicht um mich geht. Ich würde gern problemlos ans Ziel kommen! Glühwein und Musikgenuss sind in weiter Ferne. Jetzt erzählt der Radioprediger von Menschen, die sich für andere aufgeopfert haben und die ihnen durch ihre Lebensweise Jesus näher gebracht haben. Solche Sachen mache ich doch auch. Zum Beispiel in unserer Kirchgemeinde. Da mache ich in diesem Initiativkreis mit. Wegen der Asylbewerber. Etliche wohnen neuerdings in unserem Stadtteil. Wir wollen ihnen die Ankunft etwas erleichtern.

Eine Deutschlehrerin zum Beispiel gibt ihnen Unterricht. Ich will ihnen beim Ausfüllen von Formularen helfen. Tatsächlich hat auch schon mal einer gefragt: „Und das machst Du, weil Du Christ bist?“ Im Prinzip – ja. Das ist schon so. Wäre ich nicht in der Kirche – wahrscheinlich würde ich mich nicht beteiligen. Also der hatte das jedenfalls verstanden: Als Christ helfe ich Menschen, die in Schwierigkeiten gekommen sind. Das mache ich auch gern.

Heimat in der Gemeinschaft der Christen
Es gibt auch Christen unter den Asylbewerbern. Die freuen sich, in eine Gemeinde zu kommen. Kirche ist ihnen nicht fremd. Eine internationale Gemeinschaft gewissermaßen – grenzüberschreitend. Das Gefühl kenne ich auch aus dem Urlaub: in Polen oder in England – sogar in Ägypten. Ich ging in einem fremden Land in die Kirche und wurde behandelt, wie jemand, der dazugehört. Das waren auch immer andere Konfessionen: katholisch, anglikanisch oder koptisch. Aber im Grunde der gleiche Geist, der die Menschen bewegt. Das war für mich immer ein gutes Gefühl – fast wie Heimat.

Christus mitten im Alltag
„Lassen Sie sich von Gott finden. Dazu muss man keine ausgefallenen Übungen machen. Gott findet Sie in den banalen Fragen des Alltags.“ Der Radiopfarrer kommt zum Ende mit seiner Andacht. „Recht hat er,“ denke ich, „auf den Alltag kommt es an. Mit unseren täglichen Entscheidungen bereiten wir Jesus Christus den Weg. Zum Beispiel, wenn ich Fremde so behandle, wie ich selbst behandelt werden möchte. Das wäre in seinem Geist. Und ich habe selbst schon gemerkt, wie gut das tut. Was hindert mich also, dieses gute Gefühl Anderen weiter zu geben? „Hey Vater, es geht weiter!“ ruft mein Sohn ungeduldig von der Seite. Endlich, der Weg ist geebnet, die Straße ist frei. Und die Pause war ja nicht umsonst. Wann hat man heutzutage schon noch Zeit zum Nachdenken?

Pfarrer Gerhard Richter
Pfarrer Gerhard RichterBild: GEP

Zum Autor: Gerhard Richter (Jahrgang 1957) ist seit November 2004 Gemeindepfarrer im Dörfchen Bibra im Süden Thüringens, das zur Gemeinde Grabfeld gehört. 2011 wurde er zum 2. Stellvertreter der Superintendentin des Kirchenkreises Meiningen gewählt. Als gelernter Tiefbauer studierte er zuerst Bauwesen, ehe er zur evangelischen Theologie fand. Später war er neben dem Pfarrdienst Landessynodaler in Thüringen und Mitglied im Theologischen Ausschuss der Vereinigten Lutherischen Kirche in Deutschland (VELKD). 1997 entsandte ihn das Evangelisch-Lutherische Missionswerk Leipzig für sieben Jahre in den Distrikt Nordmassai der Arusha-Diözese in der Evangelisch Lutherischen Kirche in Tansania als Missionar. Wie man Menschen neu für den Glauben gewinnen kann, ist allerdings für ihn nicht erst in Afrika zum Thema geworden. Für MDR, Deutschlandradio und Deutsche Welle gestaltet er seit 1993 verschiedene Formate.

Kirchliche Verantwortung: Pfarrer Christian Engels