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Soziales Klima

5. Januar 2011

Der Klimawandel war lange ein Thema der Naturwissenschaften. Nun erforschen Sozialwissenschaftler verstärkt das Problem – und erkennen, wie die neue grüne Debatte die Gesellschaft zu verändern beginnt.

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Energiesparlampen (Foto: dpa)
Leuchtende Ideen - Soziologen sehen einen neuen BildungsprozessBild: dpa

Die Gesellschaft grünt auf allen Ebenen – egal ob es um Einkaufsverhalten, Automobiltechnik, Stadtplanung, Elektrogeräte, Energieversorgung, Textilien, Innenarchitektur oder Außenpolitik geht. Die ist Liste lang, ihre Überschrift kurz: Eine grüne Themenrevolution hat begonnen. „Wir erleben einen großen Aufklärungs- und Bildungsprozess“, sagt der Kieler Umweltsoziologe Martin Voss. „Umweltthemen sind in die Mitte der Gesellschaft gerückt. Die Triebfeder dafür ist die Debatte um den Klimawandel.“ Diese erreichte ihre Breitenwirkung zwischen 2005 und 2007: In diese Zeit fielen der Hurrikan Katrina, Al Gores Oscarpreisträger und Klimaschocker „Eine unbequeme Wahrheit“, der Stern-Report zu den Kosten des Klimawandels, der 4. Bericht des Weltklimarates IPCC, die Klimakonferenz von Bali und die Friedensnobelpreise für Gore und den IPCC.

Flüchlinge nach dem Hurrikan Katrina (Foto: dpa)
Denkanstoß - Flüchtlinge nach dem Hurrikan KatrinaBild: picture-alliance/dpa

Durch die Ballung an Großereignissen geschah, was in der Öffentlichkeit selten vorkommt: Es wurde ein Themenstrang geboren, der nicht mehr vergeht. Der neue Unterthemen gebiert und alte artverwandte Fragestellungen wieder hochspült. So erklären sich Sozial- und Medienwissenschaftler das Zustandekommen der neuen grünen Gesellschaftsdiskussion. Und damit auch die Genese ihrer aktuellen Forschungsfragen.

Verschiebung der Betrachtungsperspektive

Denn lange war die Natur in den Sozialwissenschaften ein Nischenthema. Der Klimawandel selbst war eine Frage, mit der sich vor allem Naturwissenschaftler beschäftigten. Nachdem diese das Problem publik machten und Politik sowie Öffentlichkeit darauf vehement reagiert haben, verschiebt sich nun die Betrachtungsperspektive: Zur Frage, wie der Klimawandel geschieht, tritt die Suche danach, was die Problematik für die Gesellschaft bedeutet. Wie sie das Thema bewältigen kann, ignoriert, stilisiert, diskutiert und konstruiert.

Küstenstreifen (Foto: dpa)
Hochwasserschutz - Soziologen untersuchen die gesellschaftliche Anpassung an den KlimawandelBild: DW

„Klimawandel, das ist nicht nur CO2, Temperaturanstieg und Gletscherschmelze. Für uns geht es um die sozialen Reaktionen: um Küstenschutz und Hochwassermanagement etwa, letztlich um jeder Art der Anpassung“, erklärt Soziologe Voss. Umweltsoziologen geht es auch um die Entwicklung neuer grüner Lebensstile. Und um die Anpassung des Denkens: Inwieweit sich ein Klimabewusstsein entwickelt hat, fragen sich die Forscher in aktuellen Studien, die etwa an Hochschulen in Marburg und Lüneburg entstehen. Und zeigen, „dass sich ein stabiles, hohes Niveau an Klimabewusstsein in der Bevölkerung herausgebildet hat“, wie Harald Heinrichs, Professor für Nachhaltigkeitspolitik in Lüneburg, zusammenfasst.

Wissen ist nicht Handeln

Umweltpsychologen und Verhaltensökonomen forschen danach, ob das neue Bewusstsein auch klimafreundliches Verhalten auslöst. Zwischen beidem existiert eine große Kluft, wie die Wissenschaftler herausgefunden haben – etwa am Center for Research on Environmental Decisions des Earth Institute der New Yorker Columbia University. Erste Klassiker dieser Forschungen sind erschienen, so etwa das 2009 erschienene Buch "Nudge – wie man kluge Entscheidungen anstößt."

Führend in der sozialwissenschaftlichen Klimaforschung sind auch europäische Institutionen wie das Stockholm Environment Institute. In Deutschland tun sich das Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung und die Universität Hamburg hervor, wo Wissenschaftler unterschiedlicher Fachrichtungen im deutschen Exzellenzcluster Klimaforschung zusammenarbeiten. Und gemeinsam zum Beispiel Hochwasser und Sturmfluten erforschen: künftige Wahrscheinlichkeiten, nötige Schutzmaßnahmen und die Berichterstattung über die Thematik in den Medien. „Wir profitieren in Hamburg enorm voneinander“, berichtet die beteiligte Journalistik-Professorin Irene Neverla.

Der Klimawandel als große Chance

„Die Kommunikationswissenschaftler haben sich früh des Themas angenommen“, sagt Harald Heinrichs. „Ebenso auch die Politologen, die Klimapolitik als Thema der Internationalen Beziehungen untersuchten.“ An der Lüneburger Leuphana Universität geschieht besonders viel soziale Klima- und Umweltforschung. Heinrichs selbst hat analysiert, wie sich die deutsche Tourismusindustrie auf den Klimawandel vorbereitet. Und dabei die Erkenntnis gewonnen, „dass der Klimawandel eine große Chance sein kann, wenn wir ihn als Möglichkeit sehen, Wirtschaft und Gesellschaft tiefgreifend zu modernisieren.“

Eher als Bedrohung skizziert den Klimawandel der Kulturwissenschaftler Harald Welzer: „Das Ende der Welt, wie wir sie kannten“ oder „Klimakriege“ heißen die Bücher, die er verfasst hat. Ersteres zusammen mit dem Politologen Klaus Leggewie, der - ebenso wie andere Fachkollegen, zum Beispiel in Kassel - danach fragt, inwieweit Demokratien den Klimawandel überhaupt bewältigen können.

„Wir werden wieder religiöser, mytischer“

trockener Flußlauf aus der Luft gesehen (Foto: Foto: Simone Schlindwein)
Wassermangel - Ausgetrocknete Flussbetten sind Vorboten neuer KonflikteBild: Simone Schlindwein

Der Klimawandel wirft viele soziale und kulturelle Fragen auf, deren Beantwortung jetzt erst langsam beginnt. Martin Voss sieht in diesem Prozess die Rückkehr alter europäischer Denkmuster: „In der Beschäftigung mit dem Klimawandel kommt etwas wieder, was uns seit der Aufklärung abhanden gekommen ist: das Gefühl, dass alles zusammenhängt. Der Klimawandel lässt uns wieder religiöser und mystischer werden."

Solche Dimensionen der Thematik erforschen Umweltpsychologen an verschiedenen Instituten. Doch auch Religionswissenschaftler haben sich des Themas angenommen, wie der gewaltige Band „Klimawandel und Gerechtigkeit“ des katholischen Theologen Andreas Lienkamp beweist. „Klimagerechtigkeit ist übrigens in den USA ein großes Thema“, sagt Harald Heinrichs. „Das ist eine der vielen neuen Frage, die auf die europäische Klimaforschung sicher noch stärker zukommt.“

Autor: Torsten Schäfer

Redaktion: Ranty Islam / Klaus Esterluß