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Suche nach Gerechtigkeit

29. Oktober 2010

Kanzlerin Merkel versprach einst "lückenlose Aufklärung" des von einem deutschen Oberst angeordneten Bombenangriffs in Afghanistan, doch die letzten Lücken will offenbar nur noch die Linkspartei schließen.

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Habibe Erfan, afghanische Ärztin und Zeugin im Kundus-Ausschuss
Habibe Erfan hat Zeugenaussagen gesammeltBild: Die Linke

Es ist ein unpassender Ort für ihr Anliegen. Im Berliner Promi-Café Einstein, wo Politiker und Journalisten täglich auf dem schmalen Grat zwischen eitler Selbstdarstellung und informellem Austausch wandeln, rückt die Frau ihr Kopftuch zurecht und beginnt, begleitet vom Geklirr der Kaffeetassen, ihre leisen Sätze: "Im Namen Gottes, des Gnädigen, des Barmherzigen, mein Name ist Habibe Erfan, ich bin Ärztin und Vorsitzende des Vereins für die Wiederherstellung der Rechte der Kinder und Frauen in Kundus ..."

Der Lärm herunterfallender Bestecke übertönt zweimal die Schilderung der 43-jährigen Afghanin. Es geht um die Situation der Witwen und Waisen, die der verheerende Bombenangriff vor einem reichlichen Jahr zurückgelassen hat, um Gerechtigkeit und Entschädigung und um das, was die Journalisten am meisten interessiert: Kann Frau Erfan tatsächlich neue Hinweise liefern, wie viele zivile Opfer es in jener Nacht gab?

Zerstörte Tanklastwagen nach dem Bombenangriff am 4. September 2009 bei Kundus
Zerstörte Tanklastwagen nach dem BombenangriffBild: AP

Nicht mehr rekonstruierbar ?

Tags zuvor hat die Frauenärztin, die dem Provinzrat von Kundus angehört, dazu im Untersuchungsauschuss des Bundestages ausgesagt, als erste afghanische Zeugin, wie die Partei Die Linke betont. An diesem Tag ist Erfan von der Bundestagsfraktion der Linken zu einem Pressefrühstück eingeladen. Danach geht sie auf Vortragsreise durch Deutschland - für die gleiche Partei.

Es sei diese "Weiterverwertung" durch die Linke, die ihn ärgere, sagt Ernst-Reinhard Beck, der die CDU/CSU-Fraktion im Kundus-Ausschuss vertritt. Er hält Frau Erfan zwar für eine ehrenwerte Vertreterin von Fraueninteressen, eine "bewunderswerte Persönlichkeit", die auch zweifellos nichts mit den Taliban zu tun habe. Doch ihrer Glaubwürdigkeit sei die politische Einvernahme nicht zuträglich.

Lange schon hat sich eingebürgert, im Zusammenhang mit dem Kundus-Bombardement von bis zu 142 Opfern insgesamt zu sprechen. Unklar bleibt, ob es wirklich so viele waren, und offen bleibt auch, wie viele Menschen darunter waren, die gar nichts mit den Taliban zu schaffen hatten. "Nicht mehr rekonstruierbar", sagt Unionspolitiker Beck, schließlich sei auch Frau Erfan erst drei Tage nach dem Unglück vor Ort gewesen. Da waren die Toten längst beerdigt.

Zum ISAF-Kontingent gehörende Bundeswehrsoldaten nehmen auf einer Marktstraße in Taloqan bei Kundus Kontakt zur Bevölkerung auf
Bundeswehrsoldaten auf KontaktsucheBild: picture-alliance/ dpa

Lebensgefährliche Tour

Es war der Tag der Trauerfeier, berichtet Habibe Erfan, als sie das große Leid der Witwen und Waisen in den betroffenen Dörfern gesehen habe. "Es war unerträglich, manche Familien haben zwei bis fünf Angehörige verloren, viele Schüler waren darunter."

Mit einem kleinen Team, zu dem auch der Mullah und der Bürgermeister eines betroffenen Ortes gehörten, zog sie los, um Zeugenaussagen zu sammeln. "Ich verschleierte mich und wir benutzten nur öffentliche Verkehrsmittel, denn das war lebensgefährlich für mich als Frau", sagt sie. Als Provinzrätin und Parlamentskandidatin habe sie immer wieder Morddrohungen erhalten, ihr Bruder sei von den Taliban ermordet worden.

Schließlich habe ihr Team mit Hilfe der Familien und der Schulleiter insgesamt 113 zivile Opfer identifizieren können, darunter 25 oder 26 Kinder und Jugendliche, sagt die siebenfache Mutter. Allesamt seien in jener Nacht gegen zwei Uhr zu den von den Taliban entführten und im Flussbett gestrandeten Tanklastwagen gelaufen, um Benzin abzuzapfen. "Es war Ramadan, da stehen die Menschen zwischen ein Uhr und drei Uhr auf, um mit der ganzen Familie zu frühstücken. Alle haben den Krach gehört und die Leute, die Häuser am Fluss hatten, haben die Tankwagen von ihren Dächern aus gesehen". Sie gebe nur das wieder, was sie von den Bewohnern gehört habe, betont Frau Erfan.

Viele Opfer hatten Wählerausweise

Auf die Frage, wie man unterscheiden könne, ob die Bombardierten Taliban oder unschuldige Zivilisten gewesen seien, hat Habibe Erfan für einen Teil der Getöteten eine einleuchtende Antwort. Immerhin hätten 60 bis 70 Opfer einen Wählerausweis besessen. Die könnten schon einmal nicht zu den Taliban gehört haben, denn jene hätten die Wahlen boykottiert und jeden bedroht, der trotzdem seine Stimme abgeben wollte.

Als Taliban habe man nur sechs Getötete identifiziert, sagte die Afghanin. Für Jan van Aken, der für die Linke in dem zum Untersuchungsgremium umgewandelten Verteidigungsausschuss sitzt, ist Frau Erfans Opferliste die "realistischste" von allen bisher kursierenden, denn "sie ist tatsächlich von Dorf zu Dorf gelaufen und hat alles protokolliert"

Der Rechtsanwalt Karim Popal und der Generalsekretär des European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR), Wolfgang Kaleck auf einer Pressekonferenz zu den Entschädigungen der Opfer des Luftangriffs in Kundus vom September 2009.
Rechtsanwalt Karim Popal (links) will auf Entschädigung klagenBild: picture-alliance/dpa

Dagegen hätten bisher alle Zeugen von Seiten der Bundeswehr offen gelassen, ob es bei dem von Oberst Klein angeordneten Luftangriff wirklich zivile Opfer gab.

Entschädigungsklage in Vorbereitung

Immerhin hat die Bundeswehr als "humanitäre Geste" an rund 100 Familien von Toten und Verletzten jeweils 5000 Dollar überwiesen. Allerdings mit dem ausdrücklichen Hinweis, es handle sich nicht um Entschädigungen. Man habe nicht feststellen können, wer unter den Opfern Taliban oder Sympathisant war und wer nicht.

Habibe Erfan dagegen hält alle von ihr identifizierten Opfer für unschuldige Zivilisten. Deshalb geht es ihr um eine "angemessene Entschädigung und um Gerechtigkeit".

Der Bremer Anwalt Karim Popal will für diese 113 Toten des Luftangriffs beim deutschen Staat jeweils 28.000 Euro Entschädigung einklagen. Während ihrer von der Linken organisierten Vortragsreise durch Deutschland will Habibe Erfan Spenden für die Verfahrenskosten sammeln.

Autor: Bernd Gräßler
Redaktion: Martin Schrader