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Die Stadt der Ringe

Markus Reher12. September 2006

Wie einst Moskau in Ringen um den Kreml wuchs, so bekommen vielen Hauptstädter derzeit Speckringe um die Leibesmitte: "Hüftgold" - Zeichen des neuen Wohlstands. So gesehen ist Russland längst im Westen angekommen.

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Einkaufswagen surren durch lange, verlockend bunt und gut gefüllte Regalreihen, modisch gekleidete Leute zwischen Mitte 20 und 50 füllen emsig die Körbe, auch kurz vor Mitternacht noch: knackig frisches Obst und Gemüse, ein wenig Blauschimmelkäse, ein paar Scheiben Parmaschinken und an der Feinkosttheke ein paar getrocknete Tomaten, dazu eingelegte Oliven und marinierte Artischockenherzen zur Tiefkühlpizza aus deutschen Landen.

Schnell noch ein zwei Stangen Baguette, einen Träger Bier und eine Flasche Wein, ein paar Nüsse und etwas Trockenobst zum Knabbern hinterher. Die Filiale der Supermarktkette "Asbuka Vkusa" – "ABC des Geschmacks" arbeitet "kruglosutotschno", rund um die Uhr. Wie viele ähnliche Nobel-Supermärkte im Zentrum auch. Man kommt ja sonst nicht dazu, die nötigsten Besorgungen zu machen. Die Tage im Büro sind lang, und die Staus zur "tschas pik", der russischen Variante der Rush Hour allmorgendlich und jeden Abend, scheinbar endlos.

Kulinarisch mäßiges Angebot

Eine neue betriebsame und kaufkräftige Mittelschicht wächst in Russland, und die lässt es sich nach Feierabend richtig gut gehen - nicht nur am eigenen Herd. Fein Ausgehen ist seit langem der Großstadtrussen liebster Zeitvertreib. Mit dem eigenen Auto oder der Metro geht es aus dem Büro direkt zum Dinner. Und vor den angesagtesten Sushi-Läden der Stadt steht man gern auch mal Schlange wie zu Sowjetzeiten. Dabei beherrschen Ketten-Restaurants und Café-Filialen nach dem McDonald's-Prinzip die Szene, und deren Angebot ist kulinarisch meist mäßig, in der Regel überteuert und, so warnen russische Fachleute, gesundheitlich äußerst bedenklich.

Sie sehen eine neue Welle des Übergewichts über das Land rollen, was man auf den ersten Blick gar nicht vermuten würde: schlank und hochhackig, oder in Jeans und stylischen Turnschuhen flanieren die jungen Mädchen mit ihren ansehnlich durchtrainierten Jungs über die Boulevards der Hauptstadt. - Bis Ende 20 ist der Körper gnädig. Doch etwa die Hälfte aller über 30-Jährigen gelten den Experten als "oschireny", als verfettet. Bei den Frauen steigt der Anteil gar auf fast 60 Prozent. Städter seien besonders betroffen. Mit all den Folgen wie Bluthochdruck, Herzinfarkt, Schlaganfall und Zuckerkrankheit. Alles wie in Europa oder den USA; die Russen haben schnell aufgeholt, so scheint es.

Essgewohnheiten wie zu Sowjetzeiten

Übergewicht? - Das sei doch in Russland nichts neues, winken dagegen die Hauptstädter ab. Das sei wahrscheinlich genetisch bedingt, vermuten sie. Schon zu Sowjetzeiten, als die Regale oft leer waren, habe es doch viele Dicke gegeben. Vor allem unter den Frauen. Und all die "Babuschkas", die alten Frauen, die sich heute von ihrer kargen Rente auf den riesigen Wochenmärkten fernab des neuen Wohlstands versorgen, seien doch auch meist wohlbeleibt. Die Russen hätten sich eben trotz allen Wandels doch noch nicht von den Essgewohnheiten vergangener Sowjettage verabschiedet, von Wurst und Brot, von Kartoffeln und üppigen Suppen, von Mehlspeisen, hellem Gebäck zu jedem Tee und überzuckerten Torten dann und wann.

Genau darin liege das Problem, sagen wieder andere Ernährungsforscher.

Übergewicht in Russland – um Ursachen und Auswege streiten Laien wie Experten. Nur die Ringe um die Leibesmitte, die wachsen weiter, unbeirrt. Ganz so, wie überall in der zivilisierten Welt.