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Türkische Außenpolitik

5. Juli 2010

Das Verhältnis zwischen der Türkei und der Europäischen Union ist angespannt: Der EU-Beitritt verliert an Priorität in der türkischen Außenpolitik. Doch Ankara will Europa nicht den Rücken kehren, meint Baha Güngör.

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Themenbild Kommentar (GRafik: DW)
Bild: DW

Die Türkei kann sich drehen und wenden, wie sie will: Ihre jüngsten diplomatischen Aktivitäten, ihr Nein im Weltsicherheitsrat zu Iran-Sanktionen und das anvisierte Null-Problem-Ziel im Verhältnis zu all ihren Nachbarn wird von bangen Fragen im Westen begleitet. Wendet sich die Türkei vom Westen ab? Sieht sie womöglich ihre Zukunft im islamischen Lager? Von Washington, Berlin und Brüssel über Teheran und Nahost bis nach Moskau ist die Türkei im Visier der diplomatischen Taktiker, die das NATO-Land seit fast 60 Jahren je nach eigenen Zielen zu instrumentalisieren versuchen.

Die Antwort auf derartige Fragen lautet: Nein, die Türkei wendet sich nicht ab vom Westen! Doch das EU-Ziel verliert unter dem türkischen Halbmond an Priorität. Die Türkei agiert mit neuem Selbstbewusstsein auf dem Parkett der internationalen Diplomatie. Das dürfen ihr die anderen Länder nicht übel nehmen. Sie will ihre Stellung als Regionalmacht ausbauen und auch über den europäischen Tellerrand hinausschauen. Die Türkei will mehr Verantwortung übernehmen in Konfliktregionen wie Nahost, Kaukasus oder in vermittelnder Mission im Atomstreit mit dem Iran und nicht zuletzt auch als zuverlässige Energieroute des Westens.

Türkei in der Zwickmühle

Baha Güngör, Leiter der Türkischen Redaktion der Deutschen Welle (Foto: DW)
Die Türkei gehört eindeutig zu Europa, meint Baha Güngör

Die Frage, ob die Türkei nun zu Europa gehört oder eher doch zum Orient, ist zwar nachvollziehbar, berechtigt ist sie aber nicht! Die moderne Republik unter dem Halbmond hat sich seit ihrer Gründung vor fast neun Jahrzehnten klar für Europa und damit für den Westen und für seine Werte entschieden. Doch kann sich die Türkei wegen ihrer Beitrittsambitionen weder in Europa offener Arme erfreuen noch wegen ihrer Westorientierung in der islamischen Welt. Ihr Dialog mit der Hamas, ihr Umgang mit dem Iran und die übereifrigen Aktionen zur Maßregelung Israels haben für großen Unmut in Europa und in den USA geführt - bei gleichzeitig, schwer reparablen Brüchen im Verhältnis zu Israel.

Rein zahlenmäßig hat die Türkei einiges zur Untermauerung ihrer Stärken aufzubieten: Fast zwölf Prozent Wirtschaftswachstum im ersten Quartal dieses Jahres begleitet vom 16. Platz in der Welt- und dem siebenten Platz in der europäischen Wirtschaft bilden die eine Seite der Medaille. Die andere Seite zeigt eine im Inneren gefährlich zwischen religiösen Kräften und Laizisten polarisierte Türkei, bei deren Bevölkerung die wirtschaftlichen Erfolge noch längst nicht angekommen sind. Die fortwährenden Demokratielücken, das oft fehlende Verständnis für Pressefreiheit oder die Unfähigkeit von Regierungschef Recep Tayyip Erdogan im Umgang mit Kritik an seiner Person oder an seiner Politik sind für die innenpolitischen Balancen beunruhigende Tatsachen.

Die Türkei zählt zu Europa!

Sowohl Europa als auch die Türkei brauchen einander wie nie zuvor: Die Türkei braucht Europa zur Stärkung beim Ausbau ihrer regionalen Machtstellung und ihres Einflusses in den Nachbarregionen. Ohne die Türkei hat Europa weniger Chancen, seine globalen Ziele und Strategien erfolgreich umzusetzen. Die Ablehnungsfront gegen die Türkei muss aufgeweicht werden. Statt zu erklären, warum die Türkei nicht an die EU herangeführt werden sollte, wären alle europäischen Regierungen besser beraten, wenn sie sich die Köpfe darüber zerbrechen würden, wie das geschafft werden kann: lediglich die Heranführung der Türkei an die EU, nicht die in absehbarer Zeit unwahrscheinliche Vollmitgliedschaft. Die Türkei tut gut daran, intensiv ihre Stellung als Regionalmacht auszubauen, statt unbedingt Mitglied in einer schwächeren, krisengeplagten EU zu werden.

Autor: Baha Güngör
Redaktion: Tamas Szabo/ Nicole Scherschun