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Die Tragödie von Kiew

Markus Reher 25. Juli 2006

"Die ganze Welt ist eine Bühne" – keiner wusste das besser als William Shakespeare. Der große Dramatiker politischer Ränkespiele hätte seine helle Freude gehabt an dem Stück, das derzeit in der Ukraine gegeben wird.

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Es geht um Macht und Einfluss, um Interessen, Intrigen, Verschwörung und Verrat. Das Land ist gespalten, so scheint es. Das Volk ist auf der Straße. Jeden morgen steht es vor dem Parlament, seit einer Woche schon, wieder in zwei Lagern, von einer Polizeikette getrennt. Diesmal Weiß gegen Blau, Westen gegen Osten, Fortschritt gegen russlandfreundliche Rückständigkeit.

Das Lächeln der Madame J.

Da sind die sogenannten Guten, die Weißen, auf ihrem Weg in den Westen, angeführt von der schönen Julia. Das Gesicht der "Orangenen Revolution" lächelt in der Hauptstadt Kiew wieder überall von Plakaten. Da ist der vermeintlich Böse, der Russlandtreue, der Wahlfälscher von 2004, Viktor Janukowitsch und sein blauer Block. Auferstanden von den politisch Toten und bereit für das Amt des Regierungschefs. Denn auch die Rolle des "Judas" ist besetzt, des Überläufers von Orange zu Blau, der die Wiedergeburt erst möglich machte. Und der Präsident, Viktor Juschtschenko, der Hoffnungsträger der "Orangenen Revolution" ist zur Machtlosigkeit verdammt. So will es die Regieanweisung. Wie er auch entscheidet, seine Stunde und die der "Orangenen" hat geschlagen. Das Stück von Kiew – eine Tragödie.

Tatsächlich gibt es wieder Zeltlager in Kiew. Und tatsächlich sind wieder viele von damals auf der Straße, weil sie nicht wahr haben wollen, dass Janukowitsch zurück ist, der Mann, gegen den sie im Winter 2004 wochenlang protestiert haben. Doch die große Euphorie ist verschwunden. Viele ahnen wohl, dass die "Orangenen" die Chance zu regieren selbst verspielt haben in monatelangen zähen Koalitionsverhandlungen.

Geld ist der Held

Doch das Stück Weiß gegen Blau ist höchstens im dritten Akt. Es wird weiter gespielt, auch wenn nicht immer alles nach Manuskript verläuft. "Ich bin jetzt schon den vierten Tag ohne Bezahlung", flucht ein junger Mann unter den blauen Demonstranten. "Ich bin extra nach Kiew gefahren weil man mir 50 Grifna, am Tag versprochen hat. Bis heute habe ich nichts bekommen. Janukowitsch ist ein Betrüger!" Geld, so scheint es, spielt die Hauptrolle im Kampf um Kiew

Bunte Hightechzelte in beiden Lagern, statt der alten muffigen Armeezeltplanen von damals. Mehr Ferienlager als Freiheitskampf bei den Weißen, und auch bei den Blauen geht es zu wie bei den Pfadfindern. Am Abend gibt es Karaoke, zur Entspannung nach einem anstrengenden Protesttag in der Sommersonne. Und dann und wann treten auf großen Bühnen Popstars auf. Politik als Event. Die Passanten haben sich längst daran gewöhnt, und viele haben vom dem Polittheater die Nase voll: "Die sollen endlich einen Frieden schließen. Wir wissen doch gar nicht, wie es weitergeht in der Ukraine. Wir haben kleine Kinder, und da ist schon schwer genug", meint eine junge Frau aufgebracht.

Das eigentliche Drama spielt hinter den Kulissen. Es erzählt von einer vergeben Revolution und von einem hoffnungsfrohen Aufbruch, der im Stillstand endete.