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"Die Ukraine braucht eine Koalition der Vernunft"

9. August 2007

Rainer Lindner, Ukraine-Experte der Stiftung Wissenschaft und Politik, über langfristige Machtverteilung, den Wunsch nach einer stabilen Regierung und die notwendige Fähigkeit zum politischen Kompromiss.

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Bild: DW

DW-RADIO/Ukrainisch: Auf der Wahlliste der Partei der Regionen stehen Vertreter verschiedener Parteien, darunter auch solche, die während der politischen Krise zur Koalition "übergelaufen" sind. Wie bewerten Sie dies?

Rainer Lindner: Die Ukraine ist mit diesen Neuwahlen in eine Phase gekommen, wo es darum geht, wer langfristig die Macht im Lande ausüben kann. Da kommt es weniger darauf an, welche Parteimitgliedschaften die einzelnen Personen haben, sondern es geht darum, wen man auf der zentralen, aber auch auf der regionalen Ebene als loyalen Partner betrachten kann. Und da ist es im Grunde wichtiger, jemanden, der ein großes oder auch strategisches Unternehmen führt, etwa im Rüstungs- oder Rohstoffsektor, an sich zu binden, der auch für die Einkommensverhältnisse, für das Budget, für den Export und andere Dinge verantwortlich ist. Das sind die Stützen des Landes und es ist wichtiger, diese Leute einzubinden, sie auch mit bestimmten Privilegien zu locken, auch ins politische Geschäft zu locken, um auf diese Weise ein Netz der Getreuen im Lande auszubreiten.

Nach der Rückkehr ins Amt des Regierungschefs hat Wiktor Janukowytsch mehrmals Brüssel besucht. Dort war er bemüht, sich als Demokrat zu präsentieren. Die Zusammenstellung der Wahlliste seiner Partei gab aber kein demokratisches Bild ab...

Wenn wir zunächst vom Programm der Partei der Regionen ausgehen, dann geht es da um die Förderung von Freiheit und Demokratie, da geht es um die Dezentralisierung der Macht, aber auch im wirtschaftlichen Bereich um die Unterstützung der Privatisierungsprozesse. Die normative Ebene dieser Partei entspricht der einer europäischen demokratischen Partei. Die Praxis sieht in der Tat anders aus. Es zeigt sich, dass gerade im Wahlkampf die äußeren strategischen Überlegungen, europäische Standards und Werte, eine geringe Rolle zu spielen scheinen. Man fühlt sich unter dem Druck der Ereignisse dazu veranlasst, immer stärker auf die Sicherung der eigenen Macht zu schauen.

Wie bewerten Sie die Chancen der Partei bei der vorgezogenen Parlamentswahl?

Wir können davon ausgehen, dass die Partei der Regionen auch bei der kommenden Wahl, was sie als Einzelpartei betrifft, als stärkste Kraft hervorgehen wird. Gleichzeitig wird sich die Position des Blocks Julija Tymoschenko stabilisieren. Ich bin noch etwas unsicher, inwiefern Unsere Ukraine um die Person Luzenko ähnliche Ergebnisse erzielen kann. Ich glaube, dass die Regierungsarbeit ohne die Partei der Regionen künftig nicht stattfinden wird. Die Frage ist, ob es sinnvoll wäre, zu versuchen, eine jetzt stabilere Regierungsform insofern zu bilden, verschiedene Kräfte in diese Regierung einzubinden. Ohne die Fähigkeit zum politischen Kompromiss wird die Ukraine erneut in eine solche politische Polarisierung hineinsteuern. Und es ist zu befürchten, dass man nach dem 30. September am 1. Oktober mit dem Wahlkampf für die Präsidentschaftswahlen beginnt.

Also treten Sie für die Bildung einer so genannten "breiten Koalition" ein...

Ich würde sagen, in der Ukraine es geht um eine Koalition der Vernunft, denn eines steht sicherlich fest: eine weitere Runde des permanenten Wahlkampfes kann sich das Land nicht erlauben. Wir sind gerade in der Phase der vertieften Beziehungen zur Europäischen Union. Wenn man sich jetzt nicht auf eine stabile Regierung festlegt, dann werden diese Prozesse erneut verzögert. Das kann keineswegs im Sinne der Ukraine, übrigens auch nicht im Sinne der Partei der Regionen sein. Gerade hier sieht man, dass auch die Großunternehmer aus dem Südosten viel stärker als bisher versuchen, mit westlichen Investoren und Partnern in Kontakt zu kommen, Wirtschaftsbeziehungen aufzubauen. Das kann nur mit vernünftigen Beziehungen zur EU funktionieren.

Sie sprechen von einer "Koalition der Vernunft", nennen aber keine Parteien, die ihr angehören könnten. Sagen Sie wenigstens, ob Sie eine Koalition aus der Partei der Regionen und den Kommunisten so bezeichnen würden...

Ich glaube, dass die Zeit der Partei der Kommunisten vorbei ist. Nach letzten Umfragen kommen sie mit 3,1 Prozent gerade noch ins Parlament, während die Partei der Regionen bei 27-28 Prozent liegt. Auch die Partei der Regionen kann es sich nicht leisten, sozusagen einen historischen Ballast mitzutragen. Wenn sie eine Volkspartei sein will, dann muss sie in der Lage sein, alle gesellschaftlichen Schichten anzusprechen und sich auch in der regionalen Dimension stärker öffnen, weniger polarisieren. Es geht nicht an, dass eine Partei der Regionen sich nur auf die Regionen des Ostens beschränkt. Ziel muss sein, auch im Zentrum, womöglich auch im Westen wahlfähig zu werden. Das wird mit den Kommunisten schwieriger sein als ohne sie. Insofern gehe ich davon aus, dass es in der Partei Überlegungen gibt, hier auch stärker auf eine Koalition mit den Kräften des Zentrums zu setzen.

Das Gespräch führte Eugen Theise
DW-RADIO/Ukrainisch, 6.8.2007, Fokus Ost-Südost