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Die Ukraine ein Jahr nach der "orange Revolution"

24. November 2005

Vor einem Jahr begannen in der Ukraine die Proteste gegen die gefälschte Präsidentenwahl, die zu einem Machtwechsel führten. DW-RADIO/Ukrainisch sprach mit deutschen Experten über die Lage in der Ukraine heute.

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Der Kiewer Majdan im November 2004Bild: AP

Nach Ansicht des Osteuropa-Experten Gerhard Simon haben seit Beginn der "orange Revolution" viele Menschen im letzten Jahr den "ganzen Zyklus der Emotionen" durchlebt – von Begeisterung, über Enttäuschung und Ernüchterung: "Wir waren begeistert. Wir haben gespürt, das Herz Europas schlägt auf dem Majdan. Dann haben wir zu viele Erwartungen gehabt für die Zukunft oder für die Gegenwart der Ukraine. Und natürlich kamen dann die Enttäuschungen und es kam so, wie es kommen musste. Die neue Regierung hat manche Fehler gemacht. Schlimme Fehler hat auch Präsident Juschtschenko gemacht. Dann kam die Ernüchterung, aber dennoch bin ich davon überzeugt, und ich glaube viele im alten Europa sind nach wie vor davon überzeugt, die Ukraine ist auf dem richtigen Weg, auf einem guten Weg in Richtung mehr Demokratie und Rechtsstaatlichkeit."

Pressefreiheit wichtigste Errungenschaft

Simon meint, in der Ukraine sei in einigen Bereichen Fortschritt zu beobachten: "Das Wichtigste ist die Medienfreiheit. Die Ukraine ist inzwischen ein Land, in dem es freie Medien gibt, in dem es Meinungsfreiheit gibt, in dem politische Organisationen und Parteien sich frei entfalten und arbeiten können. Das ist mehr als man vor einem Jahr hätte erwarten können."

Auch Alexander Rahr von der Deutschen Gesellschaft für Außenpolitik hält die Pressefreiheit für eine der wichtigsten Errungenschaften der "orange Revolution": "Zu den positiven Aspekten gehört erstens, dass in der Ukraine jetzt wirklich freie Meinungsäußerung etabliert worden ist, dass es die Pressefreiheit gibt und dass das Oligarchen-System, wie es unter Kutschma existiert hat, abgeschwächt worden ist. Die Oligarchen kontrollieren jetzt nicht mehr die gesamte Presse und alle Fernsehkanäle."

Wesentliche Reformen fehlen

Der Osteuropa-Experte Rahr betont aber, dass nach der "orange Revolution" vieles nicht erreicht wurde: "Zu den negativen Aspekten, und wieso man darüber reden muss, ob die ukrainische Revolution gescheitert ist, zählt das Nicht-Realisieren der wesentlichsten Reformen durch Präsident Juschtschenko. Es gibt kaum eine wirkliche Rechtsreform. Das Rechtssystem ist weiterhin so wie früher. Der Kampf gegen die Korruption wird nicht richtig geführt. Die Wirtschaft erleidet große Schwankungen. Präsident Juschtschenko erwies sich auch zunehmend mehr als ein Inspirator, als ein Politiker, der viel über die Geschichte und die Zukunft der Ukraine spricht und den Eintritt in die EU und NATO fordert, aber im praktischen Sinn sehr viele Defizite gezeigt hat."

Mitverantwortung des Westens

Für das, was heute in der Ukraine geschieht, ist Rahr zufolge auch teilweise der Westen verantwortlich: "Die EU hat es nicht vermocht, eine Beitrittsperspektive zu geben, obwohl man sicherlich der Ukraine schon längst den Status einer Marktwirtschaft hätte geben können und auch einen Assoziierungsvertrag mit der EU. Ich glaube, dass man hier betonen muss, dass keiner der westlichen großen Politiker nach der ‚orange Revolution‘ in der Ukraine war - weder Bush noch Schröder noch Chirac. Blair wird erst jetzt Ende November zum Ukraine-EU-Gipfel nach Kiew fahren. Die großen Turbulenzen in Europa selbst - Frankreich, Holland – die Neinstimmen zur Europäischen Verfassung haben die Erweiterungsdebatte in der EU gestoppt und die Ukraine hat deshalb auch keine positiven Reaktionen auf die ‚orange Revolution‘ seitens des Westens bekommen. Auch Polen, das sich im Wahlkampf befand, hat wenig tun können, um auf die Situation in der Ukraine Einfluss zu nehmen. Die Ukraine ist wieder sich selbst überlassen worden."

Image der Ukraine hat sich verändert

Weniger pessimistisch bewertet die Beziehungen der Ukraine zum Westen der Osteuropa-Experte Simon: "Ich glaube, auch in Brüssel und in Straßburg bleiben die Türen offen. Mit der Ukraine wird gesprochen. Die Ukraine ist heute ein Teilnehmer in der europäischen Politik. Vor einem Jahr war die Ukraine für viele Wochen auf den ersten Seiten der Zeitungen. Die Fernsehnachtrichten begannen mit der Reportage vom Majdan. Gewiss, damit verglichen ist die Ukraine heute wieder sozusagen auf die hinteren Seiten der Zeitungen zurückgefallen. Dennoch: Das Bild von der Ukraine hat sich nachhaltig verändert. Es gibt ein anderes Image von der Ukraine heute in Westeuropa. Wir müssen doch daran erinnern, wie es vorher war. Die Ukraine war fast marginalisiert, ausgeschlossen von internationalen Kontakten. Die Ukraine galt als ein Land im Orbit Russlands. Unsere Politik ging davon aus, dass wir mit der Ukraine eigentlich nur über Moskau reden können. Das alles gehört der Vergangenheit an."

Zustand der Wirtschaft besser

Lars Handrich, der Koordinator der deutschen Beratergruppe für Wirtschaftsreformen in der Ukraine, meint, die Wirtschaft der Ukraine sei heute in einem besseren Zustand als noch vor einem Jahr. Er betonte, die im Vergleich zum vergangenen Jahr schlechteren Wirtschaftszahlen seien auf Gründe zurückzuführen, die unabhängig von der Regierung seien.

Über die Regierung Julija Tymoschenko sagte Handrich, sie habe eine Reihe revolutionärer Schritte unternommen. Aber er fügte hinzu: "Tymoschenko hat die Gesellschaft gespalten und Jechanurow eint sie. Die Diskussion um die Reprivatisierung ebbt ab. Der unerwartete Erfolg der erneuten Privatisierung von Kryworischstal bringt der Regierung das nötige Geld, um die sozialen Versprechen der Regierung Tymoschenko zu erfüllen."

Handrich unterstrich, dass dank der für den Import geöffneten Türen die Ukrainer heute eine größere Auswahl an Waren hätten. Sie würden sich mit dem steigenden Import besser fühlen als während des stark steigenden Bruttoinlandsprodukts im vergangenen Jahr, das nur auf Inflation und einen Aufschwung in wenigen Wirtschaftszweigen zurückzuführen gewesen sei. Fehlenden Fortschritt bei der Schaffung günstiger Bedingungen für das kleine und mittlere Unternehmertum begründet Handrich mit der postsowjetischen Bürokratie, für deren Transformation man noch Jahrzehnte brauchen werde.

Tetjana Karpenko, Oleksandr Sawyzkyj
DW-RADIO/Ukrainisch, 23.11.2005, Fokus Ost-Südost