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"Die Ukraine ist in einer tiefen Transformationskrise"

27. Juli 2006

Wird Präsident Wiktor Juschtschenko das Parlament auflösen, Wiktor Janukowytsch zum Premier ernennen oder eine neue Koalition anstreben? DW-RADIO sprach mit Rainer Lindner von der Stiftung Wissenschaft und Politik.

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Stillstand in der ukrainischen PolitikBild: DW

DW-RADIO/Ukrainisch: Herr Lindner, wie bewerten Sie die derzeitige Lage in der Ukraine?

Rainer Lindner: "Die politische Situation ist eine destabilisierende Lage. Die Ukraine ist in einer tiefen Transformationskrise. Es ist eine Situation, in der Politik schon seit etwa einem Jahr nicht stattfindet. Es ist die Fortsetzung des Wahlkampfes nach den Wahlen. Alles das tut dem Land nicht gut."

Wie könnte sich Ihrer Meinung die Situation entwickeln?

Ich schwanke im Moment zwischen zwei Szenarien. Das eine Szenario ist, dass Juschtschenko nicht dieser Krisen-Koalition beitritt und damit die neue Koalition aus Post-Kommunisten und Oligarchen wirklich die Regierung stellt, dann aber auch schnell entzaubert werden wird, durch die Realitäten der politischen Welt und der Wirtschaftssituation des Landes. Die unreformierte Wirtschaft, die halbherzigen Entwicklungen in den meisten Bereichen werden dieser neuen Regierung zu schaffen machen. Die unentschiedene außenpolitische Orientierung, das heißt, all das wird dazu führen, dass eine solche post-kommunistische Regierung sehr schnell in den Realitäten des politischen Alltags ankommen wird. Und dann wird eben auch in der Bevölkerung das Bewusstsein wachsen, dass sie es eben nicht besser können.

Das zweite Szenario ist, dass Juschtschenko versuchen könnte, doch noch Teil dieser Regierung zu werden, um wenigstens teilweise eine balancierte Politik zu betreiben, und um auch die Situation einer Parallel-Regierung zu vermeiden. Dann haben wir auf der einen Seite eine kommunistische Regierung und auf der anderen einen orange Präsidenten. Das führt schnell zu einer Situation einer Regierungslosigkeit und Politikkrise und sicherlich auch zu Neuwahlen. Wenn Juschtschenko das vermeiden will, muss er Teil des Regierungsprozesses werden. Allerdings kann man ihn dann auch wieder für das verantwortlich machen, was nicht funktioniert.

Wie würden sich die Beziehungen zu Russland und dem Westen Ihrer Meinung nach unter einer Regierung aus Post-Kommunisten und Oligarchen gestalten?

Russland agiert nicht mehr nach dem Prinzip von Freundschaften und von Feindschaften. Das sehen wir am Beispiel Belarus. Russland agiert nach nationalen Interessen. Wenn der Gaspreis aus Sicht von Gasprom noch nicht hoch genug ist, wird man ihn weiter erhöhen – egal, ob nun Janukowytsch oder Tymoschenko an der Regierung ist. Ich glaube, es wird sich sehr schnell zeigen, dass diese Regierung vor allem auch im Westen keine Partner finden wird und damit das Land auch viele Modernisierungsressourcen nicht erhalten kann, die es dringend etwa im Bergbau braucht. Da nützt auch Russland nicht, weil auch in Russland die Situation gerade in diesem Bereich hoffnungslos ist. Man braucht diese Technologietransfers, man braucht die Investitionen, auch aus dem Westen. Das wird man mit einer solchen Regierung aus Kommunisten und Oligarchen nicht bekommen.

Manche Beobachter sagen, dass einer der Gründe für diese Krise eben jene Verfassungsreform ist, die während der Orange Revolution verabschiedet wurde. War die Reform für die Ukraine verfrüht?

Diese Reform ist auf eine unreife politische Klasse getroffen, insofern, weil diesen Personen eine Verfügungsgewalt ermöglicht wurde, die die Stabilität des Landes außer Kraft setzen kann. Und dass das passiert, sehen wir im Moment. Kutschma hatte dieses Kalkül vor allem deswegen gewählt, um einen Präsidenten Juschtschenko zu schwächen und man muss sagen, im Nachhinein geht das Kalkül des Kutschmismus, wenn man so will, völlig auf. Es erweist sich, dass dieses Anliegen der Verfassungsreform, das Kutschma damals hatte, Juschtschenko seine politische Karriere kosten könnte.

Das Gespräch führte Roman Goncharenko
DW-RADIO/Ukrainisch, 26.7.2006, Fokus Ost-Südost