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Die ungeliebte Hymne der Deutschen

Mirra Banchón25. Juni 2006

In den meisten Nationalhymnen geht es um Stolz, um nationale Helden und darum, wie Schurken verbluten. In der deutschen Hymne kommt kein Blut vor, und es fehlen die Bösewichte. Trotzdem ruft sie Unbehagen hervor. Warum?

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Bild: AP

Wenn man sieht, mit welcher Innigkeit die Fußballspieler vor jedem Spiel ihr Lied singen, dann scheint die Nationalhymne niemandem Probleme zu bereiten. Außer den Deutschen. Bei ihnen wirft die Hymne historische, emotionale und sogar ethische Zweifel auf - wohl aufgrund der Rolle Deutschlands in der Geschichte des 20. Jahrhunderts, welches doch ansonsten für fast alle Sterblichen dieser Erde bereits der Vergangenheit angehört.

Jetzt wurde eine neue Diskussion über die Nationalhymne entfacht. Die Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft hat vorgeschlagen, die aktuelle Nationalhymne wegen ihrer dunklen Vergangenheit zu ersetzen, zum Beispiel durch eine, die Bertold Brecht in der Schwermut der Nachkriegszeit geschrieben hat. Andere dagegen meinen, dass ein Blick auf die europäische Geschichte des 19. Jahrhunderts und eine Untersuchung der Nationalhymnen als literarische Gattung sowohl die aktuelle Hymne von Vorbehalten befreie, als auch all jene, die sie mitsingen wollen.

Lied von der Vaterlandsliebe

Joseph Haydn und Hoffmann von Fallersleben
Joseph Haydn und Hoffmann von FallerslebenBild: DW

Am 26. August 1841, während seines Exils auf der Insel Helgoland, die zu jener Zeit noch zu England gehörte, schrieb der Dichter August Heinrich Hoffmann von Fallersleben (1798-1874) das "Deutschlandlied", ein Lied über die Liebe zu seinem Vaterland. Mit "Deutschland Deutschland über alles, über alles in der Welt" begann dieses Lied, dessen Musik schon über 40 Jahre früher von Joseph Haydn (1732-1809) komponiert worden war und bis dato mit einem Text von Leopol Haschka als Hymne des österreichisch-ungarischen Imperiums gesungen wurde. Das Gedicht von Fallersleben war im Grunde eine Antwort auf die Hymne des mächtigen Hauses Habsburg.

Da 1841 nur viele kleine Staaten und Königreiche existierten, aber kein übergeordneter Staat, war die Intention des Nationalisten Fallersleben, das Volk davon zu überzeugen, sich zu vereinen und ein einheitliches Deutschland zu bilden. "Von der Maas bis an die Memel, von der Etsch bis an den Belt" geht die erste Strophe weiter und spielt damit auf die Grenzen der 38 Staaten an, die den Deutschen Bund bildeten, jenes germanische Bündnis, in dem Preußen immer mehr an Bedeutung gewann. Nach dem Sieg von Preußen über Frankreich 1871 gelang Otto von Bismarck die Vereinigung der verschiedenen deutschen Staaten zu einem einzigen Reich, vereint um Preußen und ohne Österreich.

Vom Lied zur Nationalhymne

Deutsche Nationalhymne
Nationalhymne für die Bundesrepublik Deutschland im Anhang des GrundgesetzesBild: DHM

Obwohl das Lied in großen Teilen des Deutschen Bundes und später auch im vereinigten Reich verbreitet und akzeptiert war, wurde es erst 1922 unter Friedrich Ebert zur deutschen Nationalhymne. Gesungen wurde die kontroverse erste Strophe. Von Hitler wurde diese dann neu interpretiert: Er sah in der Aufzählung der Flüsse eine Forderung nach der Ausweitung der Landesgrenzen. Nach dem langjährigen Verbot der Hymne in der Nachkriegszeit wurde sie 1952 von Theodor Heuss erneut vorgeschlagen, trotz und gerade wegen ihrer historischen Bedeutung. Von nun an wurde deshalb nur die 3. Strophe als Nationalhymne der Bundesrepublik Deutschland gesungen, auch nach der Wiedervereinigung.

Helden und Schurken in den Nationalhymnen

Als Fallersleben sein Lied schrieb, war der Zeitgeist vom nationalistischen Streben geprägt. Die neu gegründeten Staaten suchten nach Symbolen des Zusammenhalts und der nationalen Identität. Vaterländische Symbole wie die Nationalhymnen, welche die neuen Staaten und ihre Helden rühmten, waren fast unentbehrlich. Oft wurde in ihnen sogar auf die nationalen Antihelden geschimpft.

Dies war zum Beispiel in Frankreich der Fall: Als Paris 1872 Österreich den Krieg erklärte, komponierte Rouget für die Soldaten, die an der Rhein-Front kämpften, ein "Kriegslied für das Militär an den Fronten“. Beim siegreichen Einzug der Truppen in Paris einige Monate später wurde diese Hymne angestimmt. Umbenannt in "Marseillaise" wurde sie im Nachhinein zur Nationalhymne erklärt. Abgesehen von der grundlegenden Schwarz-Weiß-Malerei über Vaterland oder Tod, über nationalen Ruhm und die Schande anderer Staaten, fließt reichlich "das unreine Blut der Feinde", eine Flüssigkeit, die man definitiv in keiner Strophe der deutschen Hymne findet.

Von Paris bis Lateinamerika

Wenn die Unabhängigkeitskriege in Lateinamerika die Ideale der französischen Revolution verfolgt haben, dann war die Marseillaise für die Nationalhymnen dieser sich neu formenden Staaten ein Vorbild. So erheben sich in den meisten patriotischen Liedern Lateinamerikas die glorreichen Helden - Verbündete der höchsten himmlischen Sphären - über ihre zerrissenen Ketten und über die Überreste ihrer Kolonialherren.

Obwohl die deutsche Nationalhymne in ihrer ungekürzten Form für sich Ruhm einfordert - ein für diese Epoche sehr verbreiteter Gedanke, der in fast allen Nationalhymnen zum Ausdruck kommt -, ist sie aufgrund der Tatsache, dass die erste Strophe nicht mehr gesungen wird, von jedem Anachronismus erlöst. Sie fordert zu "Einigkeit und Recht und Freiheit" auf und ihre Verse sind weder aggressiv noch blutig, was man von vielen anderen Nationalhymnen nicht sagen kann und was ihr politische Korrektheit verleiht. Warum sollten die Deutschen sie also nicht singen, ihre Nationalhymne, und warum nicht sogar mit viel Gefühl - wenn sie denn möchten?

Deutschlands Fußballnationalmannschaft, Nationalhymne, Fußball, WM 2006
Einigkeit beim SingenBild: picture alliance/dpa/M. Hanschke