1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Die Wohnung

Sarah Judith Hofmann 5. August 2014

Nach dem Tod seiner Großmutter machte der israelische Dokumentarfilmer Arnon Goldfinger eine Entdeckung: die besten Freunde seiner Großeltern waren Nazis. Sie blieben in Kontakt - auch nach dem Holocaust.

https://p.dw.com/p/157YF
Szene aus "Die Wohnung" von Arnon Goldfinger. (Foto: Verleih)
Bild: Verleih: Salzgeber

84 Handtaschen, 104 Schals, 92 Paar Handschuhe. Das ist nur ein kleiner Teil der Hinterlassenschaft von Gerda Tuchler, geborene Lehmann. Alles stammt aus Berlin, ihrer einstigen Heimat. Als sie stirbt räumt ihre Familie, allen voran die Tochter Hannah, die Wohnung in Tel Aviv aus - und wirft vieles weg. 60 Müllsäcke landen allein in den ersten Tagen des Aufräumens vom vierten Stock der Wohnung im Innenhof und von dort im Müllcontainer. Bücher, Porzellan, Pelze.

Nüchtern zeigt die Kamera, wie die Wohnung, in der Gerda Tuchler und ihr Mann Kurt 70 Jahre gelebt haben, immer leerer wird. Der Blick verharrt nie länger als wenige Sekunden auf den Gegenständen, die ihr Leben ausgemacht haben. Am liebsten würde man "Stop" rufen, um sich diese einzigartigen Überbleibsel aus dem Berlin der 30er Jahre einmal näher anzusehen. Doch Arnon Goldfinger lässt in seinem Dokumentarfilm "Die Wohnung" keinen romantischen Blick zu. Für die Spurensuche seiner eigenen Familiengeschichte wählt seine Kamera den nüchternen Blick des Forschers und doch wird es sehr emotional.

Arnon Goldfinger (Foto: Verleih)
Dokumentarfilmer Arnon GoldfingerBild: Verleih: Salzgeber

"Ein Nazi in Palästina"

Arnon Goldfingers Mutter Hannah - die Tochter von Gerda Tuchler - wirft zwar vieles auf den Müll, doch registriert sie jedes Teil. Jedes einzelne Dokument sieht sie sich an. Und so stoßen Hannah und ihr Sohn Arnon auf eine erstaunliche Geschichte. Zwischen all den Papieren, die die Großeltern aufgehoben haben, finden sie 12 Ausgaben der Nazi-Propaganda-Zeitung "Der Angriff" von 1935. Darin ist auch eine Artikelserie mit der Überschrift "Ein Nazi fährt nach Palästina". Dort wird beschrieben, wie ein Nationalsozialist durch das Land "der zionistischen Hoffnung" reist und jüdische Siedlungen, Fabrikanlagen und Krankenhäuser besucht, um herauszufinden, welche Chancen der Zionismus im Nahen Osten hätte. Unter den Artikeln steht das Kürzel LIM. Nun beginnt die Spurensuche von Arnon Goldfinger, der während des Films als Ich-Erzähler auftritt. Er findet heraus: LIM steht für Leopold Edler von Mildenstein. Der reiste damals durch Palästina. Arnon Goldfinger stellt anhand alter Familienfotos fest, dass er nicht nur von der eigenen Ehefrau begleitet wurde, sondern auch von Gerda und Kurt Tuchler, den Großeltern des Regisseurs.

Der Nachfolger: Adolf Eichmann

Von Mildenstein war überzeugtes Mitglied der SS. Nach seiner Reise durch Palästina und seiner Berichte im "Angriff" galt er als Experte für Juden und Fragen des Zionismus. Und so wurde er Leiter des "Referats für Judenangelegenheiten" im SD, dem Sicherheitsdienst der SS. Hier sollte er ein Programm zur "Lösung der Judenfrage" entwickeln. Und es wird noch spektakulärer. Denn von Mildenstein holte den Mann ins Referat, von dem man heute weiß, dass er zentral für die Organisation der Deportation und damit der Ermordung der europäischen Juden während des Nationalsozialismus verantwortlich war: Adolf Eichmann.

Als dieser 1961 in Israel unter weltweitem Medieninteresse vor Gericht steht, gibt er auch Auskunft über von Mildenstein als seinen Vorgänger. Er wurde zum Abteilungsleiter im Reichspropagandaministerium von Joseph Goebbels. Nach dem Krieg wird er nie vor Gericht gestellt.

"Die Wohnung" von Arnon Goldfinger: Gerda und Kurt Tuchler (Foto: Verleih)
Ein intellektuelles Ehepaar in Berlin: Gerda und Kurt Tuchler begegneten von Mildensteins auf AugenhöheBild: Verleih: Salzgeber

Der Dokumentarfilm wird zum Krimi, doch nicht wegen der Person Leopold von Mildenstein. Vielmehr in psychologischer Hinsicht. Wie war es möglich, dass ein jüdisches Ehepaar gemeinsam mit einem Nazi-Ehepaar in das spätere Israel reiste, dort Urlaubsfotos machte? Wie kam es dazu, dass die Paare sich anfreundeten? Das sind die Fragen, die Arnon Goldfinger antreibt. Auch hier bleibt die Spurensuche spannend, wenn sich herausstellt, dass die Großeltern sogar nach Krieg und Holocaust Kontakt mit den von Mildensteins hielten, sie gar öfters in Deutschland besuchten.

Die Geschichte eines Generationenkonflikts

Der Rahmen für die Recherche bleibt die Wohnung. Wie in einem Theaterstück ziehen sich vor der Kamera die Jalousien der Wohnung mit jedem neuen Akt auf oder zu. Die Dokumentation "Die Wohnung" wurde bereits mit mehreren Preisen ausgezeichnet - unter anderem für Beste Regie auf dem Jerusalem Film Festival, für den Besten Schnitt auf dem Tribeca Film Festival und mit dem Bayerischen Filmpreis für den besten Dokumentarfilm.

Natürlich geht es in erster Linie um diese bisher so nie gehörte Geschichte einer deutsch-jüdischen Freundschaft in Zeiten des Holocaust. Doch es ist auch die eindringliche Geschichte eines Generationenkonflikts, der symptomatisch ist für viele jüdische Familien, die nie über Verfolgung, Auswanderung und die Ermordung ihrer Familienangehörigen sprechen konnten.

"Die Wohnung" von Arnon Goldfinger: Arnon und Hannah Goldfinger (Foto: Verleih)
Generationenkonflikt: Hannah will in der Gegenwart leben, Arnon fängt an, nach der Vergangenheit zu fragenBild: Verleih: Salzgeber

"Ich hab nicht gefragt und sie hat nichts erzählt"

So befragt Arnon Goldfinger zu Beginn des Films seine Geschwister und Cousins, was sie eigentlich über ihre Großeltern wissen. Das Ergebnis: so gut wie nichts. Nicht einmal aus welcher Stadt in Deutschland Kurt und Gerda Tuchler eigentlich kamen. Auch Goldfingers Mutter Hannah kann kaum Auskunft über ihre Eltern geben. Und doch ist sie die interessanteste Person des Films. Noch in Deutschland geboren, kam sie als Kind mit ihren Eltern - im Anschluss an die Palästina-Reise mit den von Mildensteins - nach Tel Aviv.

Beim Ausräumen der Wohnung zeigt sie sich gnadenlos. "Die Hälfte landet auf dem Müll", sagt sie mit Blick auf eine Vitrine. "Und danach kommen die Bücher dran. Bestimmt alles auf Deutsch." "Auf Deutsch" - der Tonfall zeigt ihre Verachtung. Und doch spricht sie diese ihr so verhasste Sprache, wie sich im Verlauf des Films zeigt, fließend. Ihre Eltern haben nie ein Wort hebräisch gelernt, mit den Kindern nur Deutsch gesprochen, ganz in der Vergangenheit gelebt, in ihrer Tel Aviver Wohnung, die für sie immer noch in Berlin war.

Hannah aber entscheidet sich für die Gegenwart. Von der Vergangenheit will sie nichts wissen"Ich trage genug an meinem Leben mit ihnen. Was vor so langer Zeit passiert ist, interessiert mich nicht." Und doch sieht man in ihrem Gesicht nicht nur bei diesem Satz, wie es in ihr arbeitet. Auch sie plagen Schuldgefühle. "Ich hab nicht gefragt und sie hat nichts erzählt", sagt Hannah: "Vielleicht hätte sie erzählt, wenn ich gefragt hätte."

Hannah und Arnon Goldfinger fliegen nach Berlin - Szene aus "Die Wohnung" (Foto: Verleih)
Auf Spurensuche: Hannah und Arnon Goldfinger fliegen nach Berlin: "Die Wohnung"Bild: Verleih: Salzgeber

Ein Mensch mit Vergangenheit

Der Vorwurf, den Arnon seiner Mutter macht, weil sie nie gefragt hat, ist permanent zu spüren. "Bis Oma Gerda starb, war ich mir gar nicht bewusst darüber, dass ich in einer Familie aufwuchs, in der nur die Gegenwart zählte. Endlich habe ich das Gefühl jemand mit Vergangenheit zu sein“, bilanziert Arnon Goldfinger gegen Ende des Films. Auch wenn dies pathetisch klingt, es zeigt die Paradoxie vieler Israelis, die in einem Staat aufgewachsen sind, in dem die Vergangenheit zwar ständig präsent ist, zugleich aber über die individuelle Geschichte nicht gesprochen wird. Die Erinnerungen der ersten Generation nach dem Holocaust waren zu schmerzhaft. Die Schuldgefühle überlebt zu haben, zu stark.

Es ist einer der stärksten Momente des Films, wenn Hannah einen Brief ihrer eigenen Großmutter vorliest: '"Das liebe Hannahlein soll nicht aufhören für ihre Großmutter zu beten." "Und", fragt Arnon "hast du gebetet?" "Nein."

Susanne Lehmann, die Großmutter von Hannah Goldfinger und Mutter von Gerda Tuchler, hatte sich geweigert nach Palästina auszuwandern. Berlin war ihre Heimat. Auch das Flehen ihrer Tochter konnte Susanne Lehmann nicht umstimmen. Sie wurde nach Riga deportiert und dort umgebracht. Arnon Goldfinger findet in der Gedenkstätte Yad Vashem Dokumente, die dies belegen. Ihre Tochter, Gerda Tuchler, hat nie darüber gesprochen.

Der Dokumentarfilm "Die Wohnung" hat mehrere Preise gewonnen, darunter als "Bester Dokumentarfilm" beim Bayerischen Filmfest und für "Beste Regie" beim Jerusalem Filmfestival. Am 5.8.2014 läuft er um 22.45 im Ersten Deutschen Fernsehen (ARD).