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Interview Citha Maaß

7. Oktober 2011

Afghanistan-Expertin Citha Maaß hält die US-geführte Intervention in Afghanistan für "gescheitert". Ihrer Meinung nach hat sich die internationale Gemeinschaft zur "Geisel einer korrupten afghanischen Elite" gemacht.

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Porträt Citha Maaß (Foto: DW)
Citha MaaßBild: DW

DW-WORLD.DE: Frau Maaß, was hat sich in Afghanistan in den vergangenen zehn Jahren verändert?

Citha Maaß: Es leiden weniger Menschen an Hunger. Auch die berühmten Fortschritte bei der Schulausbildung und bei der Gesundheitsausbildung gibt es wirklich. Aber die Hauptkritik aus meiner Sicht ist, dass die staatlichen Strukturen falsch aufgebaut worden sind, so dass die Erfolge, die wir tatsächlich erzielt haben, nicht nachhaltig sein werden. Die internationale Gemeinschaft hat dazu beigetragen, eine hochkorrupte Regierung ins Amt zu setzen.

Das ist ein miserables Zeugnis nach zehn Jahren.

Ich würde sagen, die Intervention ist gescheitert.

Wo hat der Westen aus Ihrer Sicht die größten Fehler gemacht?

Der Aufbau staatlicher Institutionen, der während des Bonner Prozesses in den ersten drei, vier Jahren erfolgt ist, hatte strukturelle Fehler und ist erkennbar auf dem falschen Gleis angekommen. Präsident Hamid Karsai hat auf Grund der von den Amerikanern unterstützen Verfassung eine Machtfülle erhalten, die nicht mit Gegenkontrollen ausbalanciert wird. Die internationale Gemeinschaft hat gemeinsam mit Präsident Karsai ein Wahlgesetz eingeführt, das das Parlament bewusst schwach gehalten hat.

So ist ein Parlament ins Leben gerufen worden, das erkennbar korrumpiert ist und dessen Mehrheitsentscheidungen durch Geld erkauft werden. Deswegen hat die Bevölkerung kein Vertrauen in das politische System. Damit kann sich die große Mehrheit der afghanischen Bevölkerung politisch nicht artikulieren - mit dem Ergebnis, dass die lokalen Kommandanten, die früheren Kriegsherren, ihre Macht weiter ungebrochen ausüben können.

Das klingt verbittert.

Ja. Ich bin sehr betroffen. Ich fürchte vor allem um das Leben von Afghanen und Afghaninnen, die wir in den letzten zehn Jahren aufgebaut und gestärkt haben, die sich für ihr Land einsetzen wollen und die jetzt um ihr Leben fürchten. Der November 2009 spielt hier eine große Rolle, als Präsident Karsai nach hochgradig gefälschten Wahlen doch noch zu seiner zweiten Amtszeit vereidigt wurde. Das war insofern eine schwerwiegende Wendemarke, weil mit dieser Wahl ja der Übergabeprozess eingeleitet wurde.

Porträt des afghanischen Präsidenten Hamid Karsai (Foto: dpa picture alliance)
Hamid Karsai: Präsident durch "hochgradig gefälschte Wahlen"Bild: picture-alliance/dpa

Das ist ein Übergabeprozess, in dem sich die internationale Gemeinschaft und die Amerikaner zu politischen Geiseln von Präsident Karsai und den von ihm kooptierten Regionalfürsten gemacht haben. Wir können als internationale Gemeinschaft keinen Druck mehr auf die afghanische Regierung ausüben, gegen die Korruption vorzugehen oder den Drogenhandel stärker zu bekämpfen. Diese afghanische Regierung mit ihren korrupten Strukturen ist diejenige, an die wir die Sicherheitsverantwortung und die politische Macht übergeben wollen.

Welche Rolle spielt Religion im Afghanistan-Konflikt?

Es ist ein Grundelement der afghanischen Gesellschaft. Das sollte völlig wertfrei gesehen werden. Die afghanische Gesellschaft ist sehr konservativ, sie ist nicht radikal-extremistisch oder islamistisch, aber sie ist sehr konservativ. Das hat man bis Ende 2005 fast völlig ignoriert. Um die Zeit herum wurde aber klar, dass man nicht nur mit den westlich orientierten, afghanischen Nicht-Regierungs-Organisationen zusammenarbeiten kann, sondern auch mit denen, die wir als traditionelle Autoritäten bezeichnen: mit islamischen Geistlichen und auch mit den Stammesältesten, die durchaus noch Autorität in ihrem jeweiligen Gebiet haben. Mit denen hätte man viel eher zusammenarbeiten müssen.

Das setzt aber auch voraus, dass man Aufbauhilfe nicht nach westlichen Kriterien und westlichen Prioritäten macht, sondern zum Beispiel den Dorfältesten oder den Dorfmullah fragt: "Was wollt ihr haben? Braucht ihr wirklich eine Mädchenschule oder wollt ihr lieber eine Gesundheitsstation oder eine kleine Straße, damit ihr eure Waren auf dem Markt absetzen könnt?" Wir haben die lokalen Autoritäten zu wenig gefragt.

Verhandeln mit den Taliban ist nach zehn Jahren das Gebot der Stunde. Verhandeln klingt toll, aber verhandeln mit wem und wie?

Ich gehe zurück auf die erste Afghanistan-Konferenz auf dem Petersberg bei Bonn im Dezember 2001. Man hätte nicht die Taliban an den Verhandlungstisch laden können, aber man hätte glaubwürdige Vertreter der südafghanischen Paschtunen-Stämme einladen müssen. Bei der ersten Petersberger Konferenz saßen zu allererst die Kriegsverbündeten der Amerikaner mit am Verhandlungstisch, darunter Kriegsverbrecher und Drogenbarone der Nordallianz. Es waren auch Exil-Gruppen vertreten, aber es waren in jedem Fall nicht die Vertreter der südafghanischen, paschtunischen Stämme anwesend, und diese Gruppe umfasst mindestens ein Drittel der afghanischen Bevölkerung. Außerdem: Wenn man eine dauerhafte Befriedung herbeiführen will, dann muss man auch mit den Kriegsverlierern sprechen.

US-Soldaten in der umkämpften Provinz Helmand in Südafghanistan (Foto: dpa picture alliance)
Nach dem Abzug der Kampftruppen - welche Ziele verfolgen die USA?Bild: picture alliance/dpa



Was glauben Sie, worum geht es dem westlichen Bündnis heute eigentlich noch?

Um einen gesichtswahrenden Abzug und leider nicht mehr. Die große Unbekannte ist allerdings: Was werden die USA mittel- und langfristig in Afghanistan aus strategischen und ökonomischen Gründen tun? Das ist das große Fragezeichen.

See mit Bergen und Wolken, die sich im Wasser spiegeln - der Band eh Amir im Bamian- Nationalpark (Foto: DW)
Wunderschönes, zerrissenes Afghanistan ...Bild: DW

Der Abzug der westlichen Kampftruppen ist für 2014 geplant. Wie sieht Ihre Prognose für Afghanistan aus?

Alle Szenarien, die man sich derzeit vorstellen kann, haben eine hohe Bürgerkriegskomponente. Es gibt ein hohes Risiko, dass es nach 2014 zu einem direkten Bürgerkrieg kommen könnte. Es gibt allerdings auch Machtinteressen und ökonomische Profitinteressen, die dagegen sprechen - und ich denke dabei jetzt nicht an die Taliban, sondern an Präsident Karsai und an die von ihm kooptierten Regionalfürsten.

Sie sind daran interessiert, den asymmetrischen Krieg gegen aufständische Gruppen immer unterhalb der Schwelle zu einem Bürgerkrieg zu halten, damit sie ihre illegalen, schmutzigen Geschäfte fortsetzen können. Sie brauchen die Drogen- und Schattenökonomie, die ihnen wesentliche Profite zur Verfügung stellt. Ich denke auch, dass die internationale Finanz- und Aufbauhilfe im kleineren Maßstab weitergehen wird. Und um davon ebenfalls weiter profitieren zu können, darf man es nicht zu einem Bürgerkrieg kommen lassen. Ich könnte mir vorstellen, dass das im Augenblick ein sehr realistisches Szenario ist.

Am 5. Dezember wird in Bonn wieder über die Zukunft Afghanistans verhandelt. Was erwarten Sie?

Ich befürchte, dass es ein großes Medienspektakel wird, so wie die London-Konferenz im Januar 2010 und all die früheren Afghanistan-Konferenzen. Ich verweise noch mal darauf, dass man Präsident Karsai keine Daumenschrauben mehr ansetzen kann. Die internationalen Regierungen haben wichtige Wahlen vor sich.

Präsident Obama kämpft um seine Wiederwahl. Die Bundesregierung wird 2013 in den Wahlkampf gehen, auch Frankreichs Präsident Sarkozy steht demnächst im Wahlkampf. All diese Regierungen, die nach Bonn kommen, haben kein Interesse daran, das erkennbare Scheitern deutlich zu machen. Sie werden eine nette Fassade aufbauen.

Gruppenfoto der Afghanistan-Konferenz in London im Jahr 2010 (Foto: AP)
Januar 2010 in London: außer Spesen nichts gewesen?Bild: AP

Was ist für Sie die zentrale Lehre aus der Afghanistan-Intervention?

Bevor man in ein Land geht, sollte man sich eine Strategie überlegen. Wenn man militärisch hineingeht, sollte man von vorneherein auch eine Exit-Strategie, zumindest strategisch, mit einbeziehen. Und die zweite wichtige Lehre wäre, sich die jeweiligen innenpolitischen Partner genau anzuschauen. Sind diese Partner überhaupt in der Lage, ihr Land zu befrieden? Haben sie genügend Macht oder sind sie intern so zerstritten, dass von vorneherein schon wieder der Keim der Zwietracht gesät wird?

Drittens sollte man sich von vorneherein auf eine Aufbaustrategie für zivilgesellschaftliche, interne Kräfte einigen und diese Kräfte sollte man dann nach ihren eigenen Bedürfnissen fördern. Es sollte nicht darum gehen, der Bevölkerung zu Hause im Hinblick auf Wahlen schnelle Fortschritte zu verkaufen.

Afghanistan ist ein Musterfall für Interventionen, die aus Motiven durchgeführt werden, die in den intervenierenden Staaten liegen. Dabei werden die strukturellen und gesellschaftlichen Ursachen in dem Land, in dem die Intervention durchgeführt wird, nicht berücksichtigt.

Südasien-Expertin Citha Maaß hat sich bei der Stiftung Wissenschaft und Politik viele Jahre der Afghanistan-Forschung gewidmet. Im September 2011 ist sie als Wissenschaftlerin in den Ruhestand getreten. Heute kümmert sie sich in Berlin um Grundschüler mit türkischen und arabischen Wurzeln.

Das Interview führte Sandra Petersmann
Redaktion: Martin Muno