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Dmitry Glukhovsky: Über die Herrschenden und Entrechteten

Efim Schuhmann mo
26. September 2018

Dmitry Glukhovsky kämpft in seinen Romanen gegen den Machtmissbrauch in Russland. Jetzt ist sein neuer Roman "Text" erschienen. Eine Abrechnung mit dem politischen System von Wladimir Putin?

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Dmitry Glukhovsky, russischer Schriftsteller
Bild: Jörg Schulz

Deutsche Welle: Abgesehen von biographischen Büchern ist der Roman "Text" Ihr erstes Buch über das heutige Leben in Russland. Wie ist es dazu gekommen?

Dmitry Glukhovsky: Irgendwann habe ich erkannt, dass egal was ich über Russlands Zukunft in meinen Büchern schreibe und egal welche utopischen Metaphern ich zur Beschreibung der russischen Wirklichkeit nutze, die Realität noch verwunderlicher, verzweifelter und absurder ist als meine merkwürdigsten Fantasien. Bei uns wurde viel über die Vergangenheit geschrieben. Oft stand dahinter der Wunsch, sie rein zu waschen. Wer über die Zukunft schreibt, tut das meist verbunden mit der Angst vor dem morgigen Tag. Über die Gegenwart und die größten Probleme der Menschen wurde leider fast gar nichts geschrieben. Daher beschloss ich, mich dazu zu äußern.

Eine deutsche Zeitung hält den Roman "Text" für eine Abrechnung mit dem politischen System von Präsident Wladimir Putin. Wie politisch ist das Buch?

Paradoxerweise ist es das am wenigsten politische meine Bücher. Früher habe ich sehr viel mit futuristischen Metaphern gearbeitet, um über die politische Komponente der russischen Gegenwart zu sprechen. Zum Beispiel wollen im Buch "Metro 2035" die Menschen auch 20 Jahre nach Ende des Dritten Weltkriegs den Bunker nicht verlassen. Niemand will glauben, dass der Krieg zu Ende ist. Das stand natürlich in einem direkten Zusammenhang mit der Situation innerhalb der Gesellschaft nach der Übernahme der Krim, aber auch mit der Anfälligkeit der russischen Gesellschaft für militaristische Propaganda, die sich wieder der Sprache des Kalten Krieges bediente. Die Propaganda hat die Gesellschaft heute auf sehr spezifische Weise politisiert. Es wurde ein völlig verzerrtes Weltbild geschaffen, das von den aktuellen wirtschaftlichen Problemen im Alltag ablenken soll.

Im Roman "Text" ist die Politik eher eine Kulisse. Er handelt mehr von der russischen Gesellschaft, den Menschen, und davon, in welcher Lage sie sich heute befinden. Es geht nicht einmal um den Mangel an Freiheit, denn aus meiner Sicht haben die Menschen in Russland gewisse persönliche Freiheiten. Es fehlen ihnen nur politische Freiheiten.

Buchcover "Text" von Dmitry Gluchowsky
Buchcover "Text" von Dmitry GlukhovskyBild: Europa Verlag

Das Hauptproblem der heutigen russischen Gesellschaft ist ein anderes. Alle, die der herrschenden Kaste angehören - Politiker, Beamte, Sicherheitskräfte sowie Vertreter der regierungsnahen Presse und Kirche, verachten alle anderen Menschen. Sie wollen sich den Geboten der Moral nicht unterordnen. Diejenigen, die zu dieser herrschenden Kaste gehören, sind in einem solchen Maß unantastbar und sie sind so privilegiert, dass sie gar keine Zurückhaltung akzeptieren wollen. Sie weigern sich zu glauben, dass es das Gut und das Böse, die Wahrheit und die Lüge gibt. Jeder, der in Russland Fernsehen schaut oder Zeitung liest, versteht auch ohne meine Hilfe, dass die Machthaber lügen und stehlen, dass sie nicht zögern, einen Mord zu rechtfertigen, wenn er ihrer Ansicht nach einen Zweck erfüllt.

Die andere Kaste ist die zweite, die untere: das sind die gewöhnlichen und einfachen Menschen. Sie sind völlig entrechtet. Ihnen werden überhaupt keine Rechte garantiert, nicht einmal das Recht auf Leben, geschweige denn das Recht auf Eigentum. Jederzeit kann ihnen per Beschluss einer Behörde oder von einem Sicherheitsbeamten willkürlich alles weggenommen werden. Menschen können ihre Freiheit verlieren und in extremen Fällen sogar ihr Leben. Später kann niemand mehr etwas beweisen. Zyniker drängen diesen einfachen Menschen Vorstellungen von Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit, von Gut und Böse auf, sowie die Idee von einer höheren Mission Russlands. Das ist wahrscheinlich auch die wichtigste politische Komponente des Buches, die sich in der Handlung widerspiegelt. Es ist die Geschichte von einem Philologie-Studenten aus einfachen Verhältnissen, der in einem Nachtclub mit einem Mann in einen Streit gerät, der für die Drogenpolizei arbeitet. Dem jungen Mann werden Drogen untergeschoben und er wird zu sieben Jahren Gefängnis verurteilt.

Welche Rolle spielt die Stadt Moskau in diesem sozialen Gegensatz zum Rest des Landes?

Moskau ist die reichste Stadt in Russland. Sie wird am besten gepflegt, am meisten gestreichelt und von der Staatsmacht am stärksten bestochen. Bekanntlich finden Revolutionen in den Hauptstädten statt. Um Revolutionen zu verhindern, muss man die Bewohner auf jede mögliche Weise gütig stimmen. Mit Ausnahme der Millionenstädte, die Moskau etwas hinterherhinken, ist der Rest des Landes irgendwo in der Mitte der 90er Jahre steckengeblieben. Die Menschen sind gezwungen, Kredite zu räuberischen Zinsen aufzunehmen, um notwendige Dinge zu kaufen. Sie leben von Gehalt zu Gehalt und sehen keine besonderen Perspektiven in ihrem Leben.

In einem Interview haben Sie gesagt, dass Facebook in Russland heute das ist, was die Küche für die Intellektuellen in den 1970er bis 1980er Jahren war. Was meinen Sie damit?

Man muss dazu sagen, dass die sozialen Netzwerke sehr unterschiedlich sind. Facebook hat in der Tat den Platz eingenommen, den die Küche für Intellektuelle in der Breschnew-Ära vor 40 Jahren innehatte, wo Menschen zusammenkamen und über politische, soziale und wirtschaftliche Probleme diskutierten. Facebook ist immer noch trotz politischer Provokateure und Trolle eine Insel der Freiheit.

Wie fassen russische Leser Ihren Roman "Text" auf?

Von allen Reaktionen waren für mich die am schmeichelhaftesten, die den Roman als völlig realistisch bewerten. Was dort beschrieben wird, wird für absolut möglich gehalten. Dass ein junger Mann, der sich von der Polizei, den Ermittlern und der Staatsanwaltschaft nicht freikaufen kann und nach erfundenen Vorwürfen hinter Gitter kommt, sieben Jahre im Straflager sitzt, wird nicht als Fiktion wahrgenommen. Viele glauben, dass diese Geschichte wirklich passiert ist.

Dmitry Glukhovsky ist einer der erfolgreichsten russischen Schriftsteller der Gegenwart. Politisch gilt er als scharfer Kritiker der Verhältnisse in Russland unter Präsident Wladimir Putin.

Das Gespräch führte Efim Schuhmann