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Gesellschaft

Corona: In Manaus fehlt Sauerstoff

Nádia Pontes
16. Januar 2021

Die Intensivstationen sind voll und jetzt fehlt auch noch Sauerstoff. Der explosionsartige Anstieg der Corona-Infektionen hat in Brasiliens Amazonas-Metropole Manaus zum Kollaps des Gesundheitssystems geführt.

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Bestattung eines Corona-Toten auf dem Friedhof "Nossa Senhora Aparecida" in Manaus am 13. Januar 2021Bild: Michael Dantas/AFP/Getty Images

"Ich habe vor 47 Jahren mein Staatsexamen gemacht, habe hier im Bundesstaat Amazonas einige Epidemien miterlebt, aber so etwas habe ich noch nicht gesehen", sagt Marcus Vinítius de Farias Guerra, Direktor der altehrwürdigen Stiftung für Tropenmedizin im Bundesstaat Amazonas, im DW-Interview.

Bis Ende 2020 wurden in dem zur Stiftung gehörenden Krankenhaus lediglich Patienten versorgt, die mit HIV und dem Coronavirus infiziert waren. Seit Januar dieses Jahres wurde die Aufnahme- und Behandlungskapazität um 150 Prozent erhöht. Jeder, der Hilfe braucht, wird aufgenommen.

Doch es reicht nicht. Alle Betten sind besetzt. In der Notfallaufnahme liegen ebenfalls COVID-19-Patienten und es werden täglich mehr. Viele befinden sich in einem kritischen Gesundheitszustand und müssen mit Sauerstoff versorgt werden.  

Doch der Sauerstoff ist zur Mangelware geworden. Der Speicher des Krankenhauses ist nicht mehr aufgefüllt worden. Stattdessen wurden Sauerstoffzylinder von der brasilianischen Luftwaffe aus anderen Bundesländern nach Manaus transportiert. Die Menge reicht allerdings bei weitem nicht.

Verzweiflung und Ohnmacht

Im Krankenhaus der Stiftung sind die Sauerstoffgeräte durch Schläuche miteinander verbunden, jeder einzelne Gasanschluss wird kontrolliert. Jede noch so kleine Verschwendung kann ein Menschenleben kosten.

"Mit dem Sauerstoffspeicher können die Patienten für vier Tage versorgt werden, die Sauerstoffflaschen reichen nur für einige Stunden", erklärt Direktor Guerra. "Wir wissen nicht, was wir machen sollen, wenn der Sauerstoff alle ist. Wir suchen händeringend nach neuen Zylindern."

Brasilien Manaus Coronakrise Sauerstofflieferung Luftwaffe
Die brasilianische Luftwaffe fliegt COVID-19-Patienten aus, die nicht in Manaus versorgt werden könnenBild: Edmar Barros/AP Photo/picture alliance

In den anderen Krankenhäusern und Gesundheitszentren der Stadt sieht es nicht besser aus. In Manaus gibt es nur eine einzige Firma, die Sauerstoff herstellt, der multinationale Konzern White Martins. Die Corona-Pandemie hat dazu geführt, dass der Verbrauch von industriell hergestelltem Sauerstoff mittlerweile fünfmal höher ist als die Produktionskapazität der Anlage in Manaus.

In den privaten Krankenhäusern sind die Notaufnahmen mittlerweile geschlossen, informiert der zuständige Verband für Krankenhäuser und Kliniken SBH. Im Bundesstaat Amazonas zahlen rund 500.000 Einwohner für eine private Krankenversicherung.

Frischluftzufuhr per Hand 

In den öffentlichen Krankenhäusern ist die Lage noch dramatischer. Im Universitätskrankenhaus Getúlio Vargas sollen sich grausame Szenen abgespielt haben. Angesichts der mangelnden Versorgung mit Sauerstoff versuchen die Mitarbeiter, die Patienten mit manueller Ventilation und Frischluft am Leben zu erhalten. 

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Trauer: Eine Angehörige verabschiedet sich von einem an Corona verstorbenen Familienmitglied Bild: Michael Dantas/AFP/Getty Images

"Es ist ein enormer Stress", erklärt Mário Vianna, Vorsitzender der Ärztevereinigung im Bundesstaat Amazonas (Simeam). "Keiner kann das körperlich und emotional durchhalten. Die Pfleger und Ärzte bekommen Krämpfe und brechen vor Erschöpfung zusammen, das Leben der Patienten hängt an einem seidenen Faden."

Vianna bestätigt, dass die Sauerstoffzylinder aus den anderen Bundesstaaten nicht zur Versorgung ausreichen. "Sie kommen an und sind sofort aufgebraucht. Im Gegensatz zu den enormen Sauerstoffspeichern der Krankenhäuser haben die Zylinder nur ein kleines Fassungsvermögen."

186 Bestattungen an einem Tag

Krankenpfleger berichten über die Verzweiflung von Angehörigen, die vor den Krankenhäusern und Gesundheitszentren auf Informationen warten. "Wie soll ich diesen Menschen gegenübertreten und  ihnen sagen, dass einer ihrer Familienangehörigen gestorben ist, weil es keinen Sauerstoff gibt? Das ist verheerend, ich hätte niemals gedacht, dass ich so etwas durchmachen muss", sagt ein Pfleger, der namentlich nicht genannt werden möchte.

Um die Krise zu entschärfen, hat der Bundesstaat Amazonas am Freitag (15.1.2021) damit begonnen, mehr als 200 COVID-19-Patienten in andere Bundesstaaten zu verlegen. Sogar das Nachbarland Venezuela, selbst in der Krise, hat Hilfe angeboten. Außerdem wurde zwischen 19 Uhr abends und sechs Uhr morgens eine landesweite Ausgangssperre angeordnet.

Unterdessen verzeichnet Manaus, das gesundheitlich gefährdete Patienten aus dem ganzen Amazonasgebiet aufnimmt, einen Rekord bei der Anzahl von Beerdigungen. Allein am vergangenen Donnerstag gab es 186 Bestattungen. Insgesamt sind in Brasilien bereits mehr als 200.000 Menschen an Corona gestorben.

Bolsonaro: "Wir haben unseren Teil getan"

"Die Verharmlosung der Pandemie durch die brasilianische Regierung hat ein staatliches Krisenmanagement verhindert und eine Tragödie mit schrecklichen Folgen ausgelöst", sagt Moacir Lopes, Direktor der brasilianischen Gewerkschaft für Gesundheits- und Pflegepersonal Fenasps. "Die Patienten auf der Intensivstation sterben, weil sie nicht mit Sauerstoff versorgt werden können."

Brasilien – Bolsonaro und das Coronavirus

Brasiliens Präsident Jair Bolsonaro ist sich keiner Schuld bewusst. Vor seinen Anhängern erklärte er am Freitag laut Medienberichten in Brasília, "das Problem in Manaus sei schrecklich, aber wir haben unseren Teil gemacht." Die brasilianische Luftwaffen habe ein Feldhospital nach Manaus transportiert und der Gesundheitsminister Sauerstoff beschafft.

Falsch verstandene Lockerungen

Für Krankenhaus-Direktor Marcus Vinítius de Farias Guerra war die Lage auch schon vor der Pandemie alles andere als einfach. Der vorübergehende Rückgang der Infektionszahlen im vergangenen Herbst habe ein falsches Gefühl der Erleichterung hervorgerufen, meint er.

"Nach den Kommunalwahlen im November und den Feiertagen am Jahresende gab es Lockerungen, die von der Bevölkerung als Befreiung verstanden wurden", meint Guerra. "Die Stadt war voll mit Menschen, und dies hat zu der exzessiven Belegung von Krankenhausbetten mit Patienten geführt, die jetzt Sauerstoff brauchen."

Der Direktor versucht verzweifelt, sich um die Patienten und um seine Mitarbeiter zu kümmern, von denen viele mit COVID-19 infiziert sind und behandelt werden müssen. "Es ist schon sehr schwierig, wenn ich jemand abweisen muss, weil es nicht genügend Betten gibt", sagt er. "Aber keinen Sauerstoff zu  haben, ist noch viel schlimmer."

Aus dem brasilianischen Portugiesisch adaptiert von Astrid Prange de Oliveira.