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Wie Frauen Säureangriffe überleben

Monika Griebeler19. August 2014

Vor fünf Jahren verlor Nusrat ihr Gesicht, ihren Mut, ihr altes Leben. Denn ihr Mann überschüttete sie mit Säure. Es bleibt: Ein ewiger Schmerz, der bis tief ins Innerste geht. Und doch auch neue Freiheiten gibt.

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Portraits dreier Frauen, die Opfer von Säureanschlägen wurden (Foto: DW/M. Griebeler)
Bild: DW/M. Griebeler

Einer nach dem anderen gingen sie auf Nusrat los: Erst überschüttete ihr Mann sie mit Säure, dann - als sie aus dem Zimmer flüchtete - ihr Schwager. "Meine Kleider fielen mir vom Leib. Mein Körper brannte", erzählt die junge Pakistanerin. Fünf Monate lag sie im Krankenhaus, ihr Gesicht ist bis heute vernarbt. "Meine Schwiegerfamilie zeigte die Fotos oft meinen Kindern und erzählte ihnen, dass ihre Mutter sich in ein Monster verwandelt habe", sagt sie.

Weltweit werden laut Schätzungen von Hilfsorganisationen jedes Jahr mindestens 1500 Menschen Opfer von Säureattacken - Frauen und Männer; die Dunkelziffer liegt vermutlich deutlich höher. 45 Prozent der Opfer in Uganda beispielsweise sind männlich. Der Grund ist häufig Neid. Auf den Erfolg, die Frau, das Geschäft. Wenn Frauen Opfer werden, geht es meist um Beziehungsfälle oder Familienstreitigkeiten. "Ich habe in eine große Familie eingeheiratet", erzählt die 32-jährige Nusrat. "Im Gegenzug wurde mein Bruder mit meiner Schwägerin verlobt." Sie half ihrem Bruder jedoch, das Mädchen zu heiraten, das er eigentlich wollte. "Deshalb wurde ich attackiert."

Wo Frauen weniger wert sind

Geschichten wie diese hat die deutsche Fotografin Ann-Christine Woehrl dokumentiert. In Ländern, in denen Frauen bis heute weniger wert sind - Indien, Pakistan, Uganda, Nepal, Bangladesch und Kambodscha - besuchte die 39-Jährige Säure- und Brandopfer und portraitierte die Frauen. Aktuell sind die Fotos und Geschichten im Münchner Völkerkundemuseum zu sehen.

Die deutsche Fotografin Ann-Christine Woehrl in ihrer Ausstellung "Un/sichtbar"
Ann-Christine Woehrl: "Viele Frauen saßen stundenlang vor dem Spiegel mit einer Achtsamkeit für sich, die ich besonders berührend fand."Bild: DW/M. Griebeler

Da ist Neehari, 26, aus Indien. 49 Mal versuchte sie vergeblich ein Streichholz zu entzünden. Das letzte Holz in der Schachtel ging dann doch in Flammen auf - und sie gleich mit. Ihr Mann hatte sie physisch und psychisch missbraucht. "Er war ein sadistischer Psychopath. Eines Morgens hat er mir 100 Rupien gegeben, als Bezahlung für die vergangene Nacht. Ich war so traurig und konnte es nicht länger ertragen", erzählt die junge Inderin. Deshalb zündete sie sich selbst an.

Oder da ist Flavia aus Uganda. Die 25-jährige weiß bis heute nicht, wer sie vor fünf Jahren angegriffen hat. "Die meisten glauben, dass es mein Ex-Freund war. Ich habe keine Beweise. Ich wollte die Person nur fragen: 'Was habe ich dir getan?'", sagt sie. Säure ätzt sich durch die Haut bis auf die Knochen, zersetzt Knorpel, zerfrisst Nase und Ohren. Viele Opfer erblinden. 13 von 100 Patienten überleben nicht. Wer es doch schafft, dem bleibt ein ewiger Schmerz, denn die Säure zersetzt stetig die Zellen.

Blick in die Ausstellung "Un/sichtbar" über Frauen, die Opfer von Säureanschlägen wurden (Foto: DW/M. Griebeler)
Makimas Faust: Woehrl traf die junge Inderin im Krankenhaus - und Makima erzählte, sie wolle später Polizeioffizierin werdenBild: DW/M. Griebeler

12 Cent für ein Menschenleben

Als Tatwerkzeug ist Säure symbolisch effektiv: Sie nimmt dem Opfer das Gesicht. Und sie ist ein leicht erhältliches Mittel: In vielen Ländern gibt es sie im Laden um die Ecke günstig zu kaufen. "In Bangladesch kostet eine kleine Flasche umgerechnet etwa zwölf Cent", sagt Astrid Bracht von der Menschenrechtsorganisation Terre des Femmes.

Seit 2002 gibt es in Bangladesch ein Gesetz zur Kontrolle des Verkaufs von Säure. Seitdem sind auch die Fallzahlen deutlich gesunken. Dennoch wurden allein in diesem Jahr laut der Hilfsorganisation Acid Survivors Foundation 26 Fälle gemeldet.

"Natürlich ist es an der Politik das Bewusstsein in der Gesellschaft zu verändern", sagt auch Ann-Christine Woerhl, die Fotografin. "Und im Kleinen kann man nur appellieren, dass man den Frauen Raum für ihre eigene Stimme gibt und auch das Umfeld dazu ermutigt, sie so anzunehmen."

Flavia tanzt wieder, Nusrat verschönert andere

Denn so deprimierend wie es zunächst klingt ist Woehrls Ausstellung nicht. "Hinter diesen Frauen, die vermeintlich erstmal geschwächt und unsichtbar geworden sind für die Gesellschaft, verbirgt sich eine derartige Stärke", sagt die Fotografin. Viele haben ihr erzählt, dass sie sich heute viel stärker fühlten, viel mehr bei sich. Waren sie früher Besitz oder Anhängsel ihres Mannes, so würden sie diesem Status jetzt die Stirn bieten. "Ich glaube, sie haben sich stellenweise von den verschiedenen Attributen, die man als Frau in den Gesellschaften haben muss, befreit. Und sagen: 'So! Jetzt bin ich dran!'", sagt Woehrl. "Es ist unglaublich zu sehen, wie die Frauen immer weiter Schritte gehen und sich ins Leben schmeißen."

Ann-Christine Woehrl erzählt von Neeharis "persönlichem Unabhängigkeitstag"

Flavia zum Beispiel versteckte sich mehrere Jahre in völliger Abgeschiedenheit in ihrem Zuhause. Dann nahm ein Freund sie mit zu einem Salsa-Abend. "Ich habe mich versteckt, nur zugesehen. Aber mit der Zeit habe ich neue Leute kennen gelernt, die mit mir getanzt haben - und ich wurde richtig gut." Heute kommt sie kaum zum Verschnaufen, so gerne tanzen die anderen mit ihr.

Auch Nusrat kämpfte gegen ihren Körper, gegen das Stigma, für ihre Zukunft. Und ihre Kinder hielten zu ihr. "Sie haben mich getröstet: 'Mama, du wirst wieder so wie früher. Weine nicht!'" Nach einer der vielen Operationen lernte Nusrat über ASF andere Überlebende von Säureanschlägen kennen. "Einige von ihnen waren so verbrannt, dass sie nicht mehr sehen, ihre Hände nicht mehr bewegen oder nicht mehr selbst essen konnten", erzählt Nusrat. "Ich war so wahnsinnig dankbar. Ich kann essen und die Welt sehen. Ich kann mich um mich selbst kümmern. Das Leben, das mir Gott geschenkt hat, ist wunderschön." Heute arbeitet sie in einem Kosmetiksalon und sagt: "Ich spüre keine Angst mehr in meinem Herzen."

Bis zum 11. Januar 2015 ist die Ausstellung "Un/sichtbar" im Münchner Völkerkundemuseum zu sehen. Der Bildband "In/visible" ist erschienen im Verlag Edition Lammhuber (ISBN 978-3-901753-72-5, 49,90 Euro).