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"Ein Babylon, in dem man tief fallen kann"

5. Juli 2010

In Jakarta werden 50 Sprachen gesprochen, die Stadt ist ein großes Nebeneinander: von Sprachen, von Moral und Unmoral. Ayu Utami liebt ihre Stadt trotzdem. Warum? Das hat Edith Koesoemawiria zusammen mit ihr entdeckt.

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Junge Frauen nach dem Wahlgang in Jakarta (Foto: AP)
Eine Stadt, viele KulturenBild: AP

Ayu Utami steht auf einem Bürgersteig vor einer Wand am Bahnhof Cikini, einem kleinen Bahnhof für Schnellzüge mitten in Jakarta. Auf der Wand ist ein Gedicht zu lesen. Es heißt "KTP". KTP – das ist die Abkürzung für den indonesischen Personalausweis. Geschrieben hat es Goenawan Mohammad, einer der der bekanntesten Kulturkritiker Indonesiens. Ayu Utami hat viel mit ihm gearbeitet.

Eine seelenlose Stadt

Das Gedicht erzählt von der Multi-Identität der Einwohner Jakartas, davon, wie viele unterschiedliche Kulturen hier auf engstem Raum zusammenleben. Die Menschen kommen von überall her, 300.000 sind es jedes Jahr. Aber die Stadt verändert die Einwohner nur wenig, und auch die Einwohner ändern die Stadt nicht. Die meisten kommen nur zum Arbeiten. Ihre Traditionen haben sie nicht mitgebracht, Erinnerungen wollen sie nicht pflegen, und Jakarta, dieses riesige Nebeneinander von Sprachen und Kulturen, wird nicht wirklich ihr Zuhause.

Megacity Jakarta: Kunst am Bahnhof Cikini (Foto: Eva Tobing / Jakarta Kunstrat)
Das Gedicht 'KTP' - Literatur für die Einwohner einer Stadt, die nicht wirklich ihr Zuhause ist ...Bild: Eva Tobing / Jakarta Kunstrat

Auch Ayu Utami ist nicht in Jakarta geboren. Ihre Familie ist von Bogor hierher gezogen, als sie noch ein Kind war. In Bogor spricht man Sundanesisch, auch das wird in Jakarta gesprochen. Deutsch spricht hier natürlich fast niemand, Ayu Utami aber hat es trotzdem gelernt – ein wenig zumindest. Sie liest mir aus der deutschen Ausgabe ihres Romans "Saman" vor:

"Er sah mich an. Diesmal blickte er mir in die Augen und setzte sich neben Rosano. Es war lediglich ein kurzer Kontakt. Als wäre er schüchtern, gleichzeitig stolz, männlich … Er wandte sich meinem Tablett zu und sagte: "Sie essen aber wenig." Sihar Situmorang. Er lächelte. Sihar sprach zwar meist im Jakarta-Dialekt, aber ab und zu kam die Ausdrucksweise des Batak durch, vor allem, wenn er hitziger wurde. In den Ohren der Frau klang es angenehm …"

Es ist die Geschichte eines katholischen Priesters, der sich für die Armen einsetzt. Er verliebt sich und gibt sein Priesteramt auf. Und es ist die Geschichte von einer Gruppe von Frauen, die aus traditionellen Rollen ausbrechen wollen. Das Buch "Saman" wurde 1998 vom Kunstrat der Stadt Jakarta zum besten indonesischen Roman gekürt.

Kunst auf der Straße

Der Kunstrat, in dem Ayu Utami heute selbst Mitglied ist, hatte im letzten Jahr einen Schwerpunkt zum Thema Städte. Im Rahmen eines Kulturprogramms wurden an vielen Plätzen rum um die Stadt Graffiti und Wandmalereien mit literarischen Zitaten von bekannten indonesischen Schriftstellern angebracht. Der Grundgedanke war die Frage, wie man Kunst und Kultur aus den Museen holen und in die Öffentlichkeit tragen kann. "Die Wandmalereien sollen ein Teil des täglichen Lebens werden", sagt Utami.

Die Schriftstellerin Ayu Utami (Foto: DW / Edith Koesoemawiria)
Die Schriftstellerin Ayu Utami will Kunst und Kultur aus den Museen holenBild: DW

Wir fahren gemeinsam durch die Stadt und kommen schließlich zu einem Platz unter einer Brücke, der von einem Drahtzaun umgeben ist. In der Mitte stehen zwei lange Tische, an denen ein paar Männer sitzen und Schach spielen, andere gucken zu. Die meisten von ihnen sind Fahrer von Motorradtaxis und Straßenverkäufer. Sie treffen sich zum Plaudern, Spielen oder einfach um eine Pause zu machen. Auch Arbeitslose und Obdachlose sind dabei. Neben den Tischen stehen riesige Betonsäulen. Wir gehen näher ran, um eine bessere Sicht zu haben. Oben ist eine der Lieblingswandmalereien von Ayu Utami: ein Schachbrett mit grünen und schwarzen Quadraten und zwei großen grünen Pferdefiguren. Jakarta ist mittlerweile voll von Graffiti, Protestmalereien und Literaturzitaten. Sie erzählen das, was die Menschen in der Hauptstadt beschäftigt – so wie Ayu Utamis Literatur: "Ich schreibe bestimmt nicht darüber, wie schön Jakarta ist, sondern über die Dynamik einer Großstadt. Megacities wie Jakarta, New York, Tokio und Berlin sind voller Spannungen, voller Energie. Und diese Energie kommt von den Menschen, nicht von der Stadt."

Politik nur für die Reichen

In einem Text mit dem Titel "Trottoir" schreibt Ayu Utami über Bürgersteige in Jakarta und was sie bedeuten. Sie erzählt unter anderem von einem Spaziergang in einer Nacht mit einem niederländischen Filmregisseur. Vertieft in die Diskussion über einen Film, den sie gerade gesehen hatten, fiel er auf einmal in ein tiefes Loch im Bürgersteig, mitten rein in einen Abwasserkanal. Als er auf allen vieren rauskrabbelte, hat sie ihn nicht getröstet, sondern geschimpft. "Das Problem ist auch, dass die Menschen in Jakarta nicht richtig wahrnehmen, was als öffentlicher Bereich gilt und was Privatbereich ist. Sie kennen dieses Konzept nicht. Wenn es also einen breiten Bürgersteig gibt, dann kommen viele Leute und benutzen ihn als Verkaufsplatz für allerlei Waren. Außerdem werden diese Bereiche oft von Schlägertypen kontrolliert, die Schutzgelder verlangen, solange es dort keine offiziellen Ordnungshüter gibt."

Das Gedicht 'Jabotabek' in Jakarta (Foto: Eva Tobing / Jakarta Kunstrat)
'Semanggi, von dir, dieser Betonbrücke, die wie ein Kleeblatt aussieht, schaue ich auf die große Stadt'Bild: Eva Tobing

Auch das ist also Jakarta: Eine Stadt, in der man tief fallen kann wegen großer Löcher in den Bürgersteigen. "Die offiziellen Regeln sind nicht freundlich zu denen, die arm sind", sagt Ayu Utami. Arme bekämen keinen Platz, viele würden deswegen kriminell. Die Politik – sie wird hier für die Reichen gemacht. Auch das ist ein Thema in den Geschichten und Artikeln der Schriftstellerin, die nicht in einem Elfenbeinturm schreiben, sondern vielmehr von den Problemen im Land berichten will.

Eine berühmte Brücke

Als es zu regnen anfängt, laufen wir schnell zurück zum Auto. Wir müssen das Stadtzentrum verlassen, bevor der Berufsverkehr einsetzt. Die Staus in Jakarta sind schlimm. Wenn es regnet, kann es passieren, dass man mehrere Stunden in seinem Auto festsitzt. Am Ende der Straße aber sehen wir noch eine Wandmalerei. Abgebildet ist die Skyline von Jakarta unter einem hellblauen Himmel. Auf dem Bild steht ein junger Mann in einem roten Hemd. Er trägt eine Sonnenbrille und schaut auf ein Blatt Papier. Darauf ist ein Gedicht über Jakarta zu lesen. Der Dichter ist Sitor Situmorang, das Gedicht heißt "Jabotabek". Darin erwähnt er die berühmte Autobahnbrücke Semanggi im Zentrum Jakartas:

"Semanggi, von dir, dieser Betonbrücke, die wie ein Kleeblatt aussieht, schaue ich auf die große Stadt, auf den Autoverkehr von heute, der unten strömen wird, wie ein Riesenfluss, ohne Quelle, ohne Mündung."

Autorin: Edith Koesoemawiria
Redaktion: Ramón García-Ziemsen


Ayu Utami: Saman. Horlemann Verlag. 190 Seiten. 16,90 Euro.