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Ein Jahr ist nicht genug

Konstantin Klein, Washington12. September 2002

Zum guten Ton im Journalismus gehört, eine gewisse kritische Distanz zum Objekt der Berichterstattung zu wahren. Warum das manchmal nicht geht, weiß DW-TV-Korrespondent Konstantin Klein.

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Man bildet sich ja gerne was ein auf die eigene coolness, einigermaßen erfahrener Journalist, der man ist. Man bildet sich was ein darauf, nüchtern und emotionslos über die Geschehnisse im Berichtsgebiet zu informieren, über die Ängste und Gefühle der Menschen in diesem Berichtsgebiet, unvoreingenommen, sachlich, kühl bis ans Herz hinan. Es gibt einen Fachausdruck dafür: "Sich in die Tasche lügen" heißt er.

Die Sorge blieb

Der Autor dieser Zeilen war eben nicht kühl und gelassen, als er am 11. September 2001 über die Route 50 in die Stadt fegte und über den Hügeln die Rauchwolke aufsteigen sah, die den Einschlag von American 77 in das Pentagon markierte. Der Autor guckte ganz im Gegenteil voller Panik nach oben, ob dort weitere Flugzeuge unterwegs wären. Und obwohl der Autor nach dem Eintreffen im DW-Studio an Washingtons M-Street in den Status halbautomatischer Berichterstattung verfiel, blieb immer noch die Angst um die Verwandten, die gerade mal 14 Blocks vom World Trade Center entfernt leben, und die Sorge um die eigene Familie sechs Meilen westlich der Hauptstadt.

Zu viele Rückblicke

Das ist ein Jahr her. An den Jahrestag gingen die Washingtonians, die echten wie die zugereisten, gelassen heran; zuviele Terrorwarnungen hatte die Regierung inzwischen von sich gegeben, um noch echten Schrecken hervorzurufen; zuviele Rückblicke hatten die Kollegen vom amerikanischen Fernsehen schon gesendet, als dass die Bilder von den beiden brennenden Türmen noch mehr als eine gehobene Augenbraue verursacht hätten.

Denkste. Pünktlich zum Jahrestag – und ohne dass irgendeiner eine Rede hätten halten müssen (nicht, dass die berufsmäßigen Redenhalter sich davon abhalten hätten lassen) – war das Gefühl der Unsicherheit wieder da, das Bedürfnis, die Lieben lieber ganz weit weg zu wissen, und sogar die Frage, ob man selber jetzt nicht lieber woanders wäre.

Ein Jahr ist nicht genug

Nein, wäre man nicht. Aber es ist schwer, mit einem Ausnahmezustand fertig zu werden, wenn dieser Ausnahmezustand darin besteht, in der Hauptstadt der letzten verbliebenen (und nicht überall beliebten) Großmacht zu leben, zu arbeiten – und festzustellen, dass die Welt seit dem 11. September 2001 für niemanden ein besserer Ort geworden ist. Ein Jahr ist einfach nicht genug.