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Vom Flüchtling zum Boxer

Johanna Siegel14. April 2012

Vom Flüchtling aus Nigeria zum gefeierten Profiboxer: Das ist der Weg von Jerry Elliott im Schnelldurchlauf. Heute betreibt er zwei Boxstudios in Köln, mit denen er Kinder von der Straße wegholen möchte.

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Jerry Elliott steht an einem Boxsack (Foto: DW/J. Siegel)
Box-Profi Jerry ElliottBild: DW

Ein hohes Eisentor bildet den Zugang zu einem kleinen Hinterhof am Barbarossaplatz im Kölner Zentrum. Mit Basecap und Sonnenbrille bekleidet, läuft Jerry Elliott die kleine Treppe hinunter, die zu seinem ersten eigenen Boxstudio führt. "Das ist mein Zuhause", erzählt er stolz. Hier beginnt vor acht Jahren ein neuer Lebensabschnitt für den 35-jährigen nigerianischen Profiboxer.

Flucht ins Ungewisse
Doch bis es dazu kommt, hat er einige Hürden zu nehmen. Jerry Elliott wächst als Jüngster von zwölf Kindern in der Kleinstadt Oke Ora in West-Nigeria auf. Sein Vater, sagt er, sei sehr aggressiv gewesen und habe ihn oft geschlagen. "Das war schon nicht mehr normal", sagt Jerry Elliott. "Irgendwann hatte ich einfach keinen Bock mehr und bin nach Lagos gegangen, um von dort aus nach Europa zu fliehen." Weder einen Pass, noch Geld besitzt Jerry Elliott, als er sich im Alter von 16 Jahren dazu entschließt, seine Heimat zu verlassen. Zu dieser Zeit weiß er nicht einmal, wohin ihn die Reise führt. Doch er habe keine andere Möglichkeit gehabt. "Ich glaube, wenn ich da geblieben wäre, wäre ich gestorben."

Der Eingang zum Studio Barbarossaplatz im Kölner Zentrum (Foto: DW/J. Siegel)
Lebenstraum: Elliotts Boxstudio in der Kölner InnenstadtBild: DW

Mit dem Ziel, ein neues Leben zu beginnen, macht er sich von seiner Heimat auf den Weg nach Lagos. Über Kairo und Istanbul, wo er eineinhalb Jahre für einen Hungerlohn in einer Fabrik arbeitet, kommt er nach Griechenland. Dort wird Jerry Elliott mit anderen Flüchtlingen verhaftet. Ein Gefängniswärter verhilft ihm schließlich zur Flucht. Er gelangt über Amsterdam illegal nach Deutschland. In Frankfurt wird ihm Asyl gewährt.

Das Geheimnis steckt im Boxsack

"Ich war ein tapferer Junge. Ich habe schon alles erlebt, alles", sagt Jerry Elliott mit Nachdruck. Woher nimmt er seine Kraft? Das Geheimnis steckt im Boxsack: "Als ich sieben war, habe ich angefangen zu boxen. Wir haben selber Sandsäcke im Hinterhof gebaut. Als ich nach Lagos gegangen bin, habe ich richtig angefangen zu boxen."

1996 in Köln angekommen, wird Jerry Elliott von dem Coach Uli Wegner entdeckt, der dringend einen Boxer für einen anstehenden Kampf sucht. "Ich begriff in diesem Moment, dass dies meine einzige Chance war, in einem professionellen Boxkampf zu starten", erinnert sich Jerry Elliott. Er gewinnt und der Profi-Laufbahn steht nichts mehr im Wege. Eine Bilderbuch-Karriere.

Gewonnene Perspektiven weitergeben
2004 ruft er das "Multicultural Project Cologne", kurz MCP e.V., ins Leben. "Die Idee ist, mehr Kinder dazu zu bringen, sich zu bewegen, mehr Kindern zu helfen, von der Straße wegzukommen und mehr Kindern die Möglichkeit zu geben, zu trainieren – egal, ob sie Geld haben oder nicht", erklärt er. Die kostenlosen Boxtrainings richten sich vor allem an Kinder aus sozial schwachen Familien, teilweise mit Migrationshintergrund. Finanziert wird das Projekt über Spenden und Mitglieder, die etwas mehr für ihr Training bezahlen. Jerry Elliott betont nicht nur den Fitness-Aspekt am Boxen, sondern auch die Tatsache, dass es den Kindern hilft, ihre Aggressionen zu regulieren. Außerdem werden sie im Umgang mit anderen sensibilisiert, lernen Disziplin, Akzeptanz und Toleranz: "Wir haben sehr viele verschiedene Leute, die hier trainieren: Ausländer, Deutsche, schwarz und weiß – alle."

Jugendliche beim Boxtraining (Foto: DW/J. Siegel)
Selbstvertrauen durch Boxen: Jugendliche beim TrainingBild: DW

MCP e.V. ist so erfolgreich, dass Jerry Elliott sich dazu entschließt, ein weiteres Projekt zu gründen: Das Schulprojekt "Make a Change, Versuch was Neues". Weil einige Kinder, die bei Jerry Elliott trainieren, manchmal nicht mehr wieder kommen, bringt er das Boxen einfach in die Schule. Poesie, Musik, Tanz, Video und Fotografie sind Bestandteile des Projekts, die sich alle um das Hauptthema Fitnessboxen drehen.

Helfen als Selbstheilung
Dass sich zahlreiche Jugendliche im Hinterhof tummeln, um am nächsten Training teilzunehmen, beweist, dass die Projekte gut ankommen. "Insgesamt ist die Stimmung hier einfach sehr gut", bestätigt Linda, eines der wenigen Mädchen unter ihnen.

Mädchen beim Boxtraining (Foto: DW/J. Siegel)
Kampfgeist: Auch einige Mädchen trainieren bei ElliottBild: DW

Stolz blickt Jerry Elliott auf seine Projekte und den weiten Weg, der hinter ihm liegt, zurück. Die Gründe für sein Engagement sind vielfältig: "Als ich klein war, habe ich nicht die Möglichkeit gehabt, all das zu machen. Und jetzt kann ich Kindern zeigen, wie man boxt. Ich finde mich selbst wieder. Ich bin jeden Tag neu geboren und ich genieße das."

Ende des Jahres möchte er sein erstes Buch mit dem Titel "Ich komme aus Oke Ora" veröffentlichen, in dem er seine Lebensgeschichte erzählt. Auch was seine Projekte angeht, weiß Jerry Elliott genau, wie es weitergehen soll: "Unser Ziel ist, dass es überall in Deutschland solche Studios gibt, in denen Kinder umsonst trainieren können." Ein persönliches Ziel möchte er daneben auch verfolgen: Deutscher Meister im Boxen werden.

Heute ist Jerry Elliott in Köln angekommen. Jedes Mal, wenn er "seine" Kinder sieht, erinnert er sich an sich selbst. Ihnen möchte er bei der Suche nach einem Platz im Leben helfen. Er setzt die Sonnenbrille ab und lehnt sich entspannt in seinen Stuhl zurück. Er liebe sein Land und sei noch immer Nigerianer, erzählt er, doch jetzt habe er seit Kurzem einen deutschen Pass und das sei nun mal etwas ganz Besonderes: "Wenn ich heute rausgehe und jemand sagt 'Ausweis bitte!', dann gebe ich ihm den mit Stolz, weil ich jetzt ein Deutscher bin", sagt Jerry Elliott und lacht.

Freund und früherer Trainer: Jerry Elliott mit Horst Brinkmeier (Foto: DW/J. Siegel)
Freund und früherer Trainer: Elliott mit Ex-Profiboxer Horst BrinkmeierBild: DW