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"Ein Rückzug würde die Taliban freuen"

9. August 2010

Nach dem Mord an ausländischen Ärzten in Afghanistan sind viele deutsche Zeitungskommentatoren gegen einen schnellen Abzug der Bundeswehr. Manche kritisieren aber auch die verantwortliche Hilfsorganisation.

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Zeitungen (Foto: dpa)
Bild: picture-alliance/dpa

Die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) ist gegen einen sofortigen Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan:

"Schauen wir künftig weg, wenn in Afghanistan Mädchen und Frauen massakriert werden, weil sie ungehorsam waren? Oder bombardieren wir dann hin und wieder ein Ausbildungslager, um unser Gewissen zu beruhigen? Was ist, wenn wir die Taliban in Ruhe lassen, sie aber uns nicht? Wenn sie ihre Hand nach Pakistan und seiner Atombombe ausstrecken?"

Der Fränkische Tag aus Bamberg ist entsetzt über den Mord an den christlichen Helfern:

"Die Verbrecher im Turban, die den Islam für ihre Zwecke missbrauchen, haben ein einziges Ziel, die totalitäre Herrschaft am Hindukusch. Deshalb dulden sie auch keine Hilfe von außen. Die Bevölkerung könnte ja feststellen, dass die von den Taliban propagierten Feinde gar keine sind."

Die Frankfurter Rundschau weist darauf hin, dass die Taliban wohl nicht die Täter sind:

"Es gab mal Zeiten, in denen die Taliban Vertretern anderer Religionen mit tiefem Respekt begegneten. Aber diese Haltung ist bei den heiligen Kriegern durch blinden Fanatismus ersetzt worden. Man muss wohl schon zu den Talibanmilizen gehören, um mit Morden zu prahlen, die man nicht begangen hat. (…) Da kann es auch kein Trost sein, dass die zehn Mitarbeiter der christlichen Hilfsorganisation International Assistance Mission wahrscheinlich skrupellosen Banditen zum Opfer gefallen sind."

Das Flensburger Tagblatt warnt, die afghanische Bevölkerung nicht allein zu lassen:

"Wer jetzt erneut den schnellen Truppenabzug fordert, muss wissen, dass er damit nicht nur die Bevölkerung im Stich lässt, sondern zudem alle bisher gebrachten Opfer sinnlos werden lässt - auch die der zehn Menschen, die nur helfen wollten und denen offenbar ihr fester Glaube zum tödlichen Verhängnis wurde."

Auch der Mannheimer Morgen will, dass die Bundeswehr in Afghanistan bleibt:

"Der Rückzug der humanitären Hilfskräfte vom Hindukusch würde den Taliban in die Karten spielen und erst recht natürlich der schnelle Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan. Mecklenburg-Vorpommerns Ministerpräsident Erwin Sellering hat das nicht verstanden, wenn er genau das fordert. Die Taliban dürfen sich darüber jedenfalls freuen."

Die Welt (Berlin) steht zum Afghanistan-Krieg:

"Diejenigen, die sich gern auf humanitäre Werte berufen, um gegen einen ihrer Meinung nach unmoralischen Krieg in Afghanistan zu polemisieren, müssen sich fragen lassen, wie den Menschen im Lande geholfen werden soll, wenn die Inhumanität der Taliban dort wieder Gesetz wird."

Die Lausitzer Rundschau warnt vor eine neuen Taliban-Herrschaft:

"Organisationen wie die IAM zeigen, was in Afghanistan an Entwicklungshilfe möglich ist. 250.000 Menschen pro Jahr werden allein von den Mitarbeitern dieser Organisation an den Augen operiert. Unter den Taliban wäre das wohl anders: Nichts zeigt deutlicher, wie es nach ihrem Sieg zugehen würde, als ihre Freude über die kaltblütige Ermordung der westlichen Helfer in den Tälern des Hindukusch. Doch wo Ärzte im Kugelhagel sterben, findet auch die Menschlichkeit ihr Grab."

Hoffnungen auf eine "Humanisierung der Taliban" seien Illusion, schreibt die Märkische Allgemeine aus Potdsam:

"In Afghanistan haben die Taliban vermeintliche Missionare exekutiert. So dramatisch und traurig dieser Vorgang ist, er sagt weniger über Erfolg und Misserfolg der internationalen Mission am Hindukusch aus als vielmehr etwas darüber, dass Hoffnungen auf eine Humanisierung der Taliban eine Illusion sind."

Die Heilbronner Stimme fürchtet, dass die Taliban leider Erfolg haben werden:

"Der grausame und brutale Mord an humanitären Helfern hatte überhaupt nichts mit einer angeblichen christlichen Missionierung zu tun, sondern vielmehr damit, dass in Europa immer lauter und in immer kürzeren Abständen über den vorzeitigen Rückzug der Truppen aus Afghanistan diskutiert wird. Feige Terror-Anschläge wie sie jetzt im Norden des Landes verübt wurden, dienen einzig dazu, den Entscheidungsprozess zu beschleunigen. Eine Taliban-Taktik, die Erfolg haben dürfte."

Das sieht auch die Neue Osnabrücker Zeitung so:

"Das Massaker an einem Ärzteteam zeigt das erbärmliche Wesen der Taliban und deren skrupellose, aber erfolgreiche Guerilla-Strategie (…) Die Wirkung bleibt nicht aus: Viele Afghanen wagen es nicht mehr, mit NATO, UNO oder ihrer eigenen Regierung zusammenzuarbeiten."

Das Westfalen-Blatt aus Bielefeld plädiert dafür, Helfer militärisch zu schützen:

"Die Idealisten aus dem Westen hatten den Mut, ohne militärischen Schutz durch das Land zu reisen. Sie hatten die Hoffnung, aufgrund ihrer friedfertigen Absicht nicht im Visier der Taliban zu stehen. Darin haben sie sich leider geirrt. Wieder einmal hat sich gezeigt, dass sich ziviler Aufbau und militärischer Einsatz nicht ausschließen. Ganz im Gegenteil. Das Blutbad ist Beleg dafür, dass ohne Soldaten ein Hilfseinsatz nur schwer möglich ist.

Auch die Braunschweiger Zeitung schreibt:

"Der Tod der Helfer sollte die Hilfsorganisationen dazu bewegen, ihre Vorgehensweise zu überdenken. Die International Assistance Mission verzichtete auf bewaffneten Schutz. Die Hilfsorganisation glaubt, so leichter Vertrauen zur Bevölkerung aufbauen zu können. Diese Strategie ist ehrenwert. In Taliban-Hochburgen kann sie aber tödlich sein."

Die Rheinische Post (Düsseldorf) dagegen lehnt den militärischen Schutz für Entwicklungshelfer ab:

"Es macht auch wenig Sinn, die Einsätze der Helfer militärisch zu schützen. Das würde sie erst recht zur Zielscheibe machen, weil sie dann in den Augen der radikalislamischen Taliban ein Teil der Militärmaschinerie wären. Und genau die wird von ihnen weiterhin mit Attentaten, Selbstmordanschlägen, Sprengfallen und Hinterhalten bekämpft werden. Bei aller Hilfsbereitschaft und humanitärem Sendungsbewusstsein des getöteten Ärzteteams kann man den Verantwortlichen den Vorwurf von Leichtsinn nicht ersparen. Das Gebiet, in dem die Morde geschehen sind, ist gefährliches Grenzgebiet."

Auch die Rhein-Neckar-Zeitung kritisiert die christliche Hilfsorganisation International Assistence Mission (IAM), zu der Getöteten gehörten:

"IAM ist mit christlichem Auftrag unterwegs, die Mitarbeiter bekennen sich zu ihrem Glauben. Das steht ihnen frei. Doch wer sich in der Islamischen Republik ein solches Etikett anheftet, lebt gefährlich. Dafür sind die IAM-Morde ja nicht die ersten Beispiele. Man drehe es wie man will: Gerade die Taliban zur (christlichen oder weltlichen) Liebe bekehren zu wollen, ist vergebene Mühe."

Die Neue Westfälische (Bielefeld) schreibt über die christlichen Helfer:

"Sie fielen feigen Morden zum Opfer, die Trauer und Empörung hervorrufen. Ob sie zu viel riskierten, leichtfertig Warnungen in den Wind schlugen, ob ein Einsatz unter christlichem Banner am Hindukusch nicht per se schon ein Himmelfahrtskommando darstellt, auch das darf aber bei aller Betroffenheit gefragt werden. Die Bedingungen sind wie sie sind."

Die Frankfurter Neue Presse zweifelt am Nutzen des Afghanistan-Einsatzes:

"Wir müssen allmählich realisieren, dass eine Entwicklung, die im Westen über 1000 Jahre benötigte (solange dauerte es, bis aus dem Kampf von lokalem, staatlichem und religiösem Recht mit Hilfe der Aufklärung das moderne Rechtssystem entstand), in Afghanistan nicht in 10 Jahren zu erreichen sein wird."

Die Hannoversche Allgemeine Zeitung sieht schwarz für die Zukunft Afghanistans:

"Ist Afghanistan noch zu retten? Angesichts der jüngsten Ereignisse am Hindukusch ist es fast unmöglich, diese Frage mit einem eindeutigen Ja zu beantworten. Wo ausländische Ärzte, die zum Helfen gekommen sind, ermordet werden und wo Entwicklungshelfer aus aller Welt sich ihres Lebens nicht sicher sein können, fällt es von Tag zu Tag schwerer, den Ärmsten der Armen eine Perspektive auf eine bessere Zukunft zu schaffen."

Zusammengestellt von Dirk Eckert.