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Ein gespaltenes Volk

Matthias Sailer12. Dezember 2012

Wieder gingen in Ägypten zehntausende Unterstützer und Gegner des Präsidenten auf die Straße. Dass die Opposition das Verfassungsreferendum noch verhindern kann, wird indes immer unwahrscheinlicher.

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Mursi-Anhänger (Foto: Reuters)
Bild: Reuters

Es waren zehntausende Islamisten, die sich vor einer großen Moschee im Bezirk Madinat Nasser in Kairo versammelten. Worum es ging, war schon an der Zugangsstraße deutlich zu hören: ein Marktschreier rief: "die Verfassung, die Verfassung!" und holte Interessenten für 40 Cent eine Kopie der Verfassung aus einem Karton. Überall konnte man Transparente und Plakate mit der Aufschrift "Ja zur Verfassung" oder mit Präsident Mohammed Mursis Porträt sehen. Es handelte sich nicht um eine gewöhnliche Demonstration. Im Grunde war es eine Werbeveranstaltung für das Verfassungsreferendum. Die Ägypter sollen ihre Stimme voraussichtlich am kommenden Samstag (15.12.2012) oder eine Woche später abgeben, je nach Heimatprovinz.

Aus Boxen auf einem Kleinlaster schallten von schnellen Trommeln untermalte Rufe wie "Stimme für diese Verfassung, damit für dieses Land morgen die Sonne aufgeht." Die Menschen tanzten. Auf der Hauptbühne polarisierte gleichzeitig ein Islamgelehrter. Für ihn habe die jetzige Krise die Islamisten wieder gegen die "Feinde der Religion" vereint.

Die "Verschwörung" der Oppositionsführer

Für die zur selben Zeit vor dem Präsidentenpalast demonstrierende Opposition haben sie wenig Verständnis. Mohammed ist Anwalt und ein Mitglied der Muslimbruderschaft: "Die haben Angst, am Referendum teilzunehmen, weil sie keine Basis haben, die sie unterstützt. Wenn die Mehrheit mit ihnen wäre, könnten sie ja am Referendum teilnehmen und mit 'Nein' stimmen."

Auch für die Oppositionsführer haben sie bestenfalls Verachtung übrig, schlimmstenfalls sehen sie sie als Dirigenten einer großangelegten Verschwörung. Auf einem von zwei Jugendlichen getragenen Transparent heißt es: involviert seien Mohamed El-Baradei, der US-Geheimdienst, Mitglieder des Mubarak-Regimes und die "korrupten" Medien. Auf ähnlichen Transparenten wird diese Verschwörung gar noch auf alle anderen Oppositionsführer ausgeweitet. Für weniger gebildete Demonstranten ist es eine einfach zu verstehende Botschaft.

Transparent auf der Demo der Islamisten in Madinat Nasser in Kairo (Foto: Matthias Sailer)
Mursi-Anhänger vermuten Verschwörer hinter den oppositionellen DemonstrationenBild: Matthias Sailer

Die "Verschwörung" des Mubarak-Regimes

Auch die Gewalt gegen die säkularen Demonstranten erklären viele mit der von Präsident Mursi beschriebenen Verschwörung, so auch der Muslimbruder Mohammed: "Zu der ganzen Gewalt kam es, weil ehemalige Mitglieder des Mubarak-Regimes Schläger bezahlt und sie auf die Leute losgelassen haben, um Probleme zu erzeugen und das ägyptische Volk zu teilen."

Etwa zehn Autominuten entfernt sieht man das ganz anders. Vor dem Präsidentenpalast demonstrieren ebenfalls Zehntausende: Es ist die säkulare Opposition. Auf einem über die Straße gespannten weißen Transparent steht: "Verurteilt die Führer der Muslimbruderschaft für die Ermordung friedlicher Demonstranten!" Für nahezu alle Oppositions-Anhänger waren es nicht bezahlte Schläger, die die Demonstranten angegriffen haben, sondern die Muslimbrüder.

"Wir haben Sorge wegen der Analphabeten"

Die Nicht-Islamisten demonstrieren zwar gegen die Verfassung und das Referendum. Doch für viele von ihnen geht es längst gegen den Präsidenten und die Muslimbruderschaft insgesamt. Neben dem Eingang zum Palast ist ein anderes großes Transparent gespannt. Auf ihm heißt es schlicht: "Nieder mit der Regierung des Murschid!" Mit "Murschid" ist der Oberste Führer der Muslimbruderschaft, Mohammed Badia, gemeint. Mursi wird immer wieder der Vorwurf gemacht, von ihm beeinflusst oder gar gesteuert zu werden. Wie groß der Hass der Demonstranten auf die Muslimbrüder ist, bringt schließlich eine junge Frau mit einem Megaphon in der Hand zum Ausdruck: Laut schreiend fordert sie die Menschen auf, keine Waren mehr von Firmen zu kaufen, die Mitgliedern der Muslimbrüderschaft gehören. Wenige Meter entfernt verteilt eine andere Frau Handzettel, auf denen steht "Vertraut nicht den Muslimbrüdern!"

Auf die Vorwürfe der Islamisten, das Referendum aus Angst abzulehnen, antwortet der 28-jährige Ramy: "Wir haben Sorge wegen der Analphabeten, die nicht mal lesen können. Zu denen sagen sie, 'geh und stimme für den Islam' und schon sagen sie 'ja'. Es geht aber nicht um Islam oder nicht. Kann irgendjemand von denen 260 Verfassungsartikel lesen?"

Ramy (Foto: Matthias Sailer)
Demonstrant Ramy plädiert wegen der vielen Analphabeten für einen Boykott des ReferendumsBild: Matthias Sailer

Das Referendum wird wohl stattfinden

Wie die Islamisten blieben auch die säkularen Demonstranten friedlich. Zwar durchbrachen sie am Präsidentenpalast erneut eine vom Militär errichtete Betonbarrikade. Doch die Präsidentengarde ließ sie gewähren. Stattdessen positionierten sich die Soldaten vor dem Palast in einer langen Reihe. Keiner der Demonstranten versuchte, diese Reihe zu durchbrechen.

Dass die Nicht-Islamisten mit diesen Demonstrationen das Referendum an den beiden kommenden Samstagen noch verhindern können, ist unwahrscheinlich. Auch die meisten der Demonstranten sind sich dessen inzwischen bewusst.