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Politik

Ein Trauma bestimmt die Politik in Polen

10. April 2018

Vor acht Jahren stürzte die polnische Präsidentenmaschine über dem russischen Smolensk ab. Das Trauma von Jaroslaw Kaczynski, der bei der Katastrophe seinen Zwillingsbruder Lech verlor, bestimmt bis heute seine Politik.

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Flugzeugabsturz Smolensk Lech Kaczynski Präsident Polen Jaroslaw
Bild: Wojtek Radwanski/AFP/Getty Images

Wie in jedem Jahr finden auch 2018 am 10. April, dem Jahrestag der Flugzeugkatastrophe von Smolensk, in Polen patriotische Kundgebungen und Gottesdienste statt. Für den Vorsitzenden der Regierungspartei PiS, Jaroslaw Kaczynski, sind die diesjährigen Feierlichkeiten besonders wichtig: Im Parlament in Warschau wird eine Gedenktafel zu Ehren seines Zwillingsbruders Lech Kaczynski enthüllt, der - damals polnischer Präsident - bei dem Absturz vor acht Jahren ums Leben gekommen war.

Der tote Präsident als Nationalheld

In ganz Polen gibt es für Lech Kaczynski inzwischen Hunderte von Gedenktafeln und Denkmälern. Im polnischen Sejm wird er jedoch an ganz prominenter Stelle geehrt - am Haupteingang, gleich neben der Gedenktafel für Papst Johannes Paul II., der im katholischen Polen als Nationalheld betrachtet wird.

Polen Jahrestag Absturz der polnischen Regierungsmaschine in Smolensk
Öffentliche Inszenierung: Trauer am Jahrestag des Absturzes der Regierungsmaschine in Smolensk Bild: Reuters/K. Pempel

Seit acht Jahren versucht Jaroslaw Kaczynski, auch seinen umgekommenen Zwillingsbruder als Nationalhelden darzustellen. "Er hat das polnische Nationalbewusstsein und die Würde der Polen wiederaufgebaut", sagt er gerne an einem der Gedenktage, die nicht nur am 10. April, sondern jeden Monat stattfinden. Die Trauer um die Opfer der Tragödie, vor allem um den Zwillingsbruder des PiS-Vorsitzenden, scheint kein Ende zu nehmen.

Die Theorie vom russischen Attentat

Die verhängnisvolle doppelte Symbolik der Katastrophe eignet sich dazu perfekt. Am 10. April 2010 war der polnische Präsident mit einer ranghohen Delegation auf dem Weg nach Katyn, einem Dorf bei Smolensk in Westen Russlands. Siebzig Jahre zuvor, zwischen dem 3. April und dem 11. Mai 1940, waren dort 22.000 polnische Offiziere vom russischen Geheimdienst ermordet worden; das Ereignis ist auch als "Massaker von Katyn" bekannt. Am 70. Jahrestag kommt nur wenige Kilometer von Katyn entfernt auf dem alten Militärflughafen von Smolensk die ganze polnische Delegation um - ein Szenario, das manchen Polen bis heute als schwer zu glauben erscheint.

Und so sprießen die Verschwörungstheorien. Umfragen zufolge glauben zwischen 26 und 28 Prozent der Polen nicht an einen Zufall, sondern an ein russisches Attentat. Die PiS-Regierung lehnt die offiziellen polnischen und russischen Berichte ab, die von Fehlern der Piloten, irreführenden Anweisungen der Lotsen und dem marodem Zustand des russischen Flughafens sprechen.

Die "Smolensk-Religion"

Die Katastrophe sorgt in Polen nach wie vor für emotionalen Zündstoff, den Jaroslaw Kaczynski für seine Politik nutzt. Zbigniew Mikolejko von der Polnischen Akademie der Wissenschaften nennt den PiS-Vorsitzenden einen "Auserwählten", der auf seinem persönlichen Trauma eine ganze "Smolensk-Religion" aufgebaut habe. Dazu gehöre das Märtyrertum der Toten ebenso wie die christliche Symbolik, Kreuze und Gebete, die die Gedenkfeierlichkeiten bestimme. Doch es gebe auch "heidnische Elemente", etwa die Fackelzüge.

"Mit dieser Mischung sollen alle Gesellschaftsgruppen angesprochen werden - von frommen älteren Damen über Fußballfans und Kleinbürger bis hin zu Menschen mit nationalistischen Ansichten", sagt Mikolejko im Gespräch mit der DW. Es liege in der Natur von Religionen, unterschiedliche Menschengruppen um ein gemeinsames Narrativ zu versammeln, und genau das gelinge auch dem PiS-Vorsitzenden.

Russland Flugzeugabsturz von Smolensk - Lech Kaczynski getötet
Alle offiziellen Berichte gehen von einem Unglück ausBild: picture-alliance/dpa/S. Chirikov

Der Religionsphilosoph spricht von einer "Emotionalisierung" der polnischen Politik, zu der Kaczynski in den letzten Jahren mit seinen Smolensk-Ritualen wesentlich beigetragen habe. Das sei ihm deshalb leicht gefallen, weil sich breite Teile der Gesellschaft von den wirtschaftsorientierten Liberalen nicht angesprochen gefühlt haben. Es sei das Versäumnis der Liberalen, nicht erkannt zu haben, dass "die Polen mehr als viele andere Nationen Mythen brauchen", meint Mikolejko.

Die Tragödie als politisches Instrument

Polen Grab von Lech Kaczynski und seiner Frau Maria in Krakau
Als Nationalheld verehrt - das Grab von Lech Kaczynski und seiner Frau Maria in KrakauBild: Getty Images/S. Gallup

Die Verschmelzung religionsähnlicher Rituale mit der Politik ist für viele eine Instrumentalisierung der nationalen Tragödie. "Ich erinnere mich noch an die Einigkeit, die gleich nach der Katastrophe in Polen herrschte. Doch ganz schnell hat Jaroslaw Kaczynski entdeckt, dass er damit eine effektive Politik betreiben und den Tod seines Bruders politisch nutzen kann", sagt der Soziologe Jakub Bierzynski im Gespräch mit der DW. Seiner Meinung nach glaube Kaczynski selbst nicht an seine Attentatstheorie, da er "ein ganz rational denkender Politiker" sei. Doch er setze die Verschwörungstheorie ganz gezielt ein. "Es ist für viele Menschen nicht zu akzeptieren, dass 96 Personen ausgerechnet an diesem historischen Ort wegen Pilotenfehlern gestorben seien. Das macht doch keinen Sinn", sagt Bierzynski. Seiner Meinung nach befriedigt Kaczynski mit seiner Attentatstheorie "das menschliche Grundbedürfnis, nach einem tieferen Sinn der Dinge zu suchen".

Die Folgen der Katastrophe

Dem PiS-Vorsitzendem fällt es aber immer schwerer, die These erfolgreich zu vertreten. Die Belege für Explosionen, die die Präsidentenmaschine angeblich zerstört haben, sind ausgeblieben. Acht Jahre lang, jeden Monat, hat Kaczynski von der Aufklärung der Katastrophe gesprochen. "Wir werden siegen", lautete seine Parole - und mit dem Wort "Sieg" war das Vorliegen von eindeutigen Beweisen für ein Attentat gemeint. Doch seit einiger Zeit schließt er nicht mehr aus, dass "die Wahrheit nicht endgültig entdeckt" werden könnte.

Die monatlichen Gedenktage, an denen zuletzt nicht mehr Tausende, sondern nur noch Hunderte teilnehmen, will Kaczynski jetzt ganz einstellen. Sein "Sieg" erscheint immer weniger wahrscheinlich. Die nationale Katastrophe und das persönliche Trauma des wichtigsten polnischen Politikers hinterlassen aber ihre Spuren. Es sind die gespannten Beziehungen zu Russland und die Spaltung der polnischen Gesellschaft.

Porträt einer Frau mit kurzen blonden Haaren und blauen Augen
Monika Sieradzka DW-Korrespondentin in Warschau