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Ein Visionär für die Zivilgesellschaft

Gérard Foussier 28. Mai 2003

Valéry Giscard d'Estaing bekommt den Karls-Preis 2003 verliehen – eine Ehrung für Bemühungen, nicht für Ergebnisse, meint Gérard Foussier in seinem Kommentar.

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Verdienste hat Valéry Giscard d'Estaing durchaus anzumelden. Aber als Vorsitzender des Konvents noch nicht. Mit seinem Freund Helmut, dem damaligen Bundeskanzler Schmidt, war er an der Schaffung des Europäischen Währungssystems beteiligt, 1986 gründete er, ebenfalls mit Helmut Schmidt das Komitee für die Europäische Wirtschafts-Union.

Aber immer wieder musste er etliche Niederlagen einstecken: Präsident der Europäischen Zentralbank ist er nicht geworden, genausowenig General-Direktor des Welt-Währungs-Fonds. Mit einer neuen Amtszeit als Staatspräsident hatte er immer wieder kokettiert. "VGE" - wie er in Frankreich kurz genannt wird - hat nie aufgegeben. Er ignorierte Kritiker und Karikaturisten, die ihn - nicht nur in Frankreich - zum altmodischen Hinterbänkler deklariert hatten. Der portugiesische Außenminister nannte ihn öffentlich einen "Mann von gestern". Franzosen übernahmen die Schelte und machten ihren "Ex" zum "Mann von vorgestern". Giscard kämpfte unermüdlich weiter.

Der 1926 in Koblenz geborene Giscard d'Estaing kennt die bösen Anspielungen auf sein Alter - und erinnert daran, dass General de Gaulle erst mit 75 direkt von den Franzosen zum Staatschef gewählt wurde. Die Bezeichnung "Opa für Europa", die bei seiner Wahl an die Spitze des Konvents zu lesen war, würde "VGE" sogar als Kompliment auffassen. Hauptsache Europa.

Der Akkordeon-Liebhaber muss nun die ganze Klaviatur europäischer Konzepte beherrschen, wenn das erweiterte Europa 2004 über eine Verfassung verfügen soll. Nur: Die Partitur erweist sich als schwierig. Die heftigste Kritik an den bisher bekannten Entwürfen kommt aus dem Konvent selbst. Giscard wird von manchen beschuldigt, nur die Interessen der großen Länder zu vertreten. Andere sehen in Valéry Giscard d'Estaing bei der Suche einer Verfassung nicht nur den Geburtshelfer, sondern auch einen ehrgeizigen Politiker, der auch das Geschlecht des Kindes mitbestimmen will.

Der Aachener Karls-Preis honoriert nicht das Ergebnis einer Debatte, sondern nur die Bemühungen, überhaupt irgendwelche brauchbare Lösungen zu finden. Meinungsunterschiede, Streit, ja offener Streit, gar Widerstand sorgen regelmäßig für Schlagzeilen. Giscard selbst ist nicht ganz unschuldig daran: Mal präsentiert er innerhalb von wenigen Tagen unterschiedliche Papiere, weil er seine Gedanken nicht im Präsidium diskutiert hatte; mal bezeichnet er eine EU-Mitgliedschaft der Türkei, die er sowieso nicht will, als das "Ende der Union"; mal entwickelt er in aller Stille eigene Konzepte.

Also nicht der Konvent, auch nicht die noch zu definierende Verfassung Europas sind mit dem diesjährigen Karls-Preis gemeint, sondern ein Mann, der zu gerne Visionen hat. Visionäre haben es immer schwer, wenn es um Pragmatismus und Konsens geht. Visionäre vergessen oft die Realitäten, die Machtverhältnisse und die Empfindlichkeiten. Sie haben aber den Mut, Unangenehmes auszusprechen, sich das Undenkbare auszudenken und das Sachliche emotional zu verkaufen. Visionäre müssen eitel, pedantisch und sogar arrogant sein. Bei allen Fehlern, die sich Valéry Giscard d'Estaing selbst zuzuschreiben hat - seine medienwirksamen Auftritte haben Europa in den Mittelpunkt der öffentlichen Diskussion gebracht. Wenn sie einen hätte, würde ihm die Zivilgesellschaft den Karlspreis verleihen.