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Ein Zaun, eine Botschaft

Nemanja Rujević, z. Zt. Röszke16. September 2015

Ungarns Grenze zu Serbien ist dicht, Flüchtlinge werden verhaftet und die Regierung in Budapest feiert "eine neue Ära". Doch die offizielle Version stimmt so nicht ganz, berichtet Nemanja Rujević aus Röszke.

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Polizisten an der Grenze (Foto: Nemanja Rujević/DW)
Bild: Nemanja Rujević/DW

Auf der Suche nach der Lücke im Grenzzaun

Die Hoffnung war gerade drei Meter breit. Dort, bei der Kleinstadt Röszke, wo normalerweise Bahngleise die beiden Nachbarländer Ungarn und Serbien verbinden, konnten Flüchtlinge wochenlang in den gelobten Schengen-Raum gelangen. Allein am Montag kamen noch fast 10.000 Menschen nach Ungarn, viele über diese drei Meter. Für diejenigen, die erst am Dienstag ankamen, war die Lücke der Hoffnung nicht mehr da. Stattdessen wartete dort ein alter Güterwaggon, aufgerüstet mit scharfem Stacheldraht. Außerdem jede Menge mit Schnellschussgewehren bewaffnete Soldaten sowie dutzende neugierige Journalisten und Kameraleute.

"Seit fünf Tagen sind wir nur gelaufen und haben kaum geschlafen", berichtet ein syrischer Flüchtling durch den Zaun. Eine Frau im Hintergrund versucht, den Kinderwagen über den steinigen Weg zu schieben, die anderen gönnen sich eine kurze Pause. Der Syrer kann nicht verstehen, warum die Ungarn ihn und seine Gruppe aufhalten wollen. "Für uns gibt es kein Zurück. Wir sind dem Tod entkommen."

Flüchtlinge hinter dem Grenzzaun (Foto: Nemanja Rujević/DW)
Seit Dienstag ist in Röszke an diesem Zaun die Reise erst einmal zu EndeBild: Nemanja Rujević/DW

Ein junger Polizist ist davon wenig beeindruckt. Routiniert zeigt er den Ankömmlingen, wo der offizielle Grenzübergang ist. Die neue Taktik von Orbáns Regierung lautet: Menschen schon in der Transitzone aufhalten - dem Niemandsland zwischen Serbien und Ungarn. Dort warten schon einige hundert, die mit einem Sitzstreik ihre Unzufriedenheit zeigen. Mit den Serben hätten sie keine Probleme gehabt. Jetzt hoffen sie auf Gnade der ungarischen Behörden. Die aber warten ab. Worauf genau? "Darüber darf ich nicht reden", sagt der wenig auskunftsfreudige Polizist und setzt seine Patrouille entlang der Grenze fort.

Abschiebung statt Asyl

Eigentlich will Ungarn die Flüchtlinge noch in der Transitzone registrieren – und zwar nicht mit dem Ziel, ihnen Asyl anzubieten, sondern vielmehr, um einen Grund zu finden, die Menschen zurück nach Serbien abzuschieben. Das bestätigt auch Regierungssprecher Zoltán Kovács: "Diesen Menschen drohte in Griechenland keine Gefahr. Auch in Mazedonien und Serbien herrschen keine Kriege. Deswegen muss man ihre Asylsuche in Ungarn oder anderswo in der EU in Frage stellen", sagte Kovács der DW. In seinem Vokabular kommt das Wort "Flüchtling" gar nicht vor. Kovács spricht lieber von "illegalen Wirtschaftsmigranten", die nach Europa drängten und eine Last für die gesamte EU - auch für Deutschland - darstellten.

Die neue Taktik aus Budapest stößt in Serbien auf harte Kritik. Dort drohte ein Staatssekretär, auch Belgrad könne seine Armee an die Grenze schicken, um Abschiebungen zu verhindern. Seit Dienstagmorgen waren mehrere Grenzübergänge zwischen beiden Ländern geschlossen, nachdem Ungarn den Ausnahmezustand ausgerufen hatte. Serbiens Arbeitsminister Aleksandar Vulin rief das nördliche Nachbarland dazu auf, die Flüchtlinge mit Würde zu behandeln.

Doch davon ist wenig zu spüren. Seit Dienstag gilt ein Gesetz, das "illegalen Grenzübertritt" mit bis zu drei Jahren Haft ahndet. Für Beschädigung des Zauns oder Stacheldrahtes können es sogar fünf Jahre sein. "Das ist eine neue Ära. Unsere Priorität ist es, die illegalen Wege zu schließen und offizielle Wege zu verstärken, nämlich diejenigen über die Grenzübergänge", sagte Kovács.

Polizisten und eine afghanische Familie (Foto: Nemanja Rujević/DW)
Festgenommen, aber nicht verhaftet - eine afghanische FamilieBild: Nemanja Rujević/DW

In der ersten Festnahmewelle wurden nach Angaben der Regierung 174 Personen verhaftet. Dass sie wirklich im Gefängnis landen, ist eher unwahrscheinlich. DW-Reporter trafen am Dienstag eine große afghanische Familie mit Kleinkindern, die von der Polizei auf ungarischem Territorium gefasst wurde. "Diese Menschen sind nicht verhaftet", betonten die Sicherheitskräfte. Ungarn will diese Menschen nicht haben - weder als Asylbewerber noch als Häftlinge. Inoffiziell wurde uns berichtet, auch diese Flüchtlinge würden einfach zurück nach Serbien abgeschoben.

Nicht ganz dicht

Auffällig ist, dass das große Theater mit den vielen Soldaten und strengen Kontrollen nur im Grenzgebiet um die Kleinstadt Röszke stattfindet. Dort sind viele TV-Teams präsent, die Ungarns Botschaft in die Welt senden sollen. Nur 20 Kilometer westlich, nahe des Städtchens Ásotthalom, ist von der Show wenig zu sehen. Nicht einmal einen richtigen Grenzzaun gibt es hier, obwohl die Regierung triumphal angekündigt hatte, die letzten Schlupflöcher seien schon am Montag geschlossen worden. Hier aber steht nur Stacheldraht, einige Polizisten und Soldaten plaudern neben ihrem Jeep - und die Flüchtlinge kommen durch.

István Miksi hat schon viele gesehen, auch in den letzten 24 Stunden. Der 72-Jährige hat ein kleines Haus nur wenige hundert Meter von der Grenze entfernt, das er mit drei Hunden und zwölf Katzen teilt. "Natürlich habe ich kein Problem mit Flüchtlingen, ich bin ja kein Faschist. Sie suchen nur ein besseres Leben, das kann ich nachvollziehen", sagt er.

Der 72-jährige István Miksi und kurdische Flüchtlinge (Foto: Nemanja Rujević/DW)
István Miksi hilft den kurdischen Flüchtlingen mit Wasser und InformationenBild: Nemanja Rujević/DW

Was der Rentner nicht nachvollziehen kann, ist die Stimmung in Ungarn und den Bau des Zauns. Vor 50 Jahren war er selbst Grenzsoldat, als das damals moskautreue Ungarn die Grenze zu dem blockfreien Jugoslawien sicherte. Heutige Kontrollen seien dagegen bloß ein Zirkus. "Ich denke, der Zaun wurde gebaut, weil jemand so einfacher Schmiergeld von Flüchtlingen erpressen kann. Sie marschieren seit Monaten, und dieser Zaun wird sie nicht stoppen. Ungarn hat nur Geld verschwendet", ist sich der Rentner sicher.

"We love Germany"

Miksi geht ins Haus, um Wasser für eine gerade ankommende Gruppe von Flüchtlingen zu holen. Es sind acht junge Kurden aus dem Irak und Iran, die sich auf keinen Fall in Ungarn registrieren lassen wollen. Denn sie haben gehört, dass das Abgeben von Fingerabdrücken in Ungarn ihren Traum von Deutschland verderben könnte. "We love Germany", wiederholen sie mehrmals.

Zurück aus seinem Haus zeichnet Miksi mit einem Zweig eine simple Landkarte in den Staub - zwei Linien sind die Straßen, ein Punkt die wenige Kilometer entfernte Großstadt Szeged. In diese Richtung sollten sich die Ankömmlinge begeben, sagt er, und hoffen, irgendeine Mitfahrgelegenheit nach Budapest zu finden, ohne erwischt zu werden. Die Kurden bedanken sich herzlich. Einer streichelt die Katze, während die anderen noch die Plastikflaschen mit Wasser einpacken. Dann machen sie sich weiter auf den Weg nach "Germany".

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