1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Gewalt in Syrien

Robert Mudge15. Februar 2012

In einem DW-Interview spricht Kenneth Roth, Geschäftsführer von Human Rights Watch, von Verbrechen des syrischen Regimes gegen die Menschlichkeit und geißelt die Haltung Russlands und Chinas.

https://p.dw.com/p/143f8
demonstranten in Syrien
Die blutigen Proteste gegen weiter in SyrienBild: AP

DW: Das syrische Regime hat einer UN-Blauhelmmission eine Absage erteilt und setzt verschiedenen Berichten zufolge seine militärischen Angriffe auf Rebellen fort. Die Vereinten Nationen schätzen, dass mindestens 5.000 Menschen in Syrien umgekommen sind. Wie schätzt Human Rights Watch die derzeitige Situation ein?

Kenneth Roth: Es ist ganz klar eine Katastrophe. Wie Sie sagten, nutzen die syrischen Truppen militärische Mittel. Zum Teil tun sie das gegen eine Opposition, die selbst auch zunehmend bewaffnet ist. Aber natürlich richten die syrischen Sicherheitskräfte ihre Gewalt zum großen Teil auch gegen friedliche Demonstranten ein. Und zahlreiche Todesopfer finden sich unter Menschen, die nichts getan haben, außer für eine demokratischere Regierung in Syrien zu demonstrieren. Selbst während sich der Konflikt mehr und mehr in Richtung eines Bürgerkrieges verschlimmert, ist es wichtig nicht zu vergessen, dass die meisten Todesopfer immer noch Menschen sind, die nichts getan haben, außer von ihrem Recht auf Meinungsfreiheit Gebrauch zu machen und für Menschenrechte und Demokratie zu demonstrieren.

Würden Sie sagen, dass sich die Situation verschlimmert hat, seit ein Human Rights Watch Bericht im Dezember 2011 detaillierte Menschenrechtsverletzungen dargestellt und dafür plädiert hat, dass das syrische Regime vor den Internationalen Strafgerichtshof gebracht wird?

Die Situation hat sich drastisch verschlimmert. Ich denke dass der Anstieg von willkürlichem Beschuss, wie wir ihn in den vergangenen Wochen in Homs gesehen haben, eine weitere Eskalation der gewaltsamen Unterdrückung darstellt. Und unser Ruf nach der Einsetzung eines Internationalen Strafgerichtshofs ist deshalb noch viel dringlicher geworden. Es sind ganz eindeutig Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die syrische Sicherheitskräfte – also die Kommandanten, die diese Arten von Mord befehlen - da begehen. Dies ist exakt die Situation, in der der Internationale Strafgerichtshof ins Spiel kommen sollte. Ganz offensichtlich gibt es nur einen Grund dafür, dass das nicht passiert – weil nämlich Russland und China den UN-Sicherheitsrat am Handeln gehindert haben. Da Syrien den Vertrag von Rom, mit dem der Internationale Strafgerichtshof eingerichtet worden ist, nicht ratifiziert hat, gibt es nur eine Möglichkeit für den Internationalen Strafgerichtshof, die rechtliche Zuständigkeit für die Menschenrechtsverletzungen in Syrien zu erlangen: eine Zuweisung durch den UN-Sicherheitsrat. Und Russland hat sich bisher geweigert, eine solche Zuweisung zu tolerieren.

Sie selbst haben verschiedene Fälle von Menschenrechtsverletzungen untersucht und auch als Staatsanwalt gearbeitet. Wie würden Sie die Gewalt in Syrien aus einer juristischen Sicht heraus beurteilen – und für wie belastbar halten Sie mögliche Beweise gegen das Regime von Präsident Baschar al-Assad ein einem Gerichtsverfahren?

Wenn jemand systematisch Demonstranten erschießt oder systematisch und willkürlich Wohngebiete einer Stadt beschießt, dann ist das ein klassischer Fall von Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Wenn die Situation sich derart verschlimmert, dass von einem bewaffneten Konflikt innerhalb Syriens gesprochen werden muss, stellt so ein Vorgehen außerdem ein Kriegsverbrechen dar. Noch sprechen wir hier aber von Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Und für solche ist der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag zuständig.

Es ist schwierig, belastbare Beweise zu sammeln, weil die syrische Regierung verhindert, dass Beobachter von Menschenrechtsorganisationen und Journalisten ihre Arbeit tun können. Dennoch waren Human Rights Watch und andere Organisationen in der Lage, einiges an Beweismaterial in Syrien zu sammeln und ich bin zuversichtlich, dass wir im Laufe der Zeit Zugang noch mehr Beweise werden sammeln können. Das Schwierige wird also nicht sein, das Beweismaterial für eine Anklage zusammenzutragen, sondern die rechtliche Zuständigkeit zu erwirken, die es dem Internationalen Strafgerichtshof erlaubt, den Fall zu verfolgen. Deshalb ist und bleibt Russlands Veto im UN-Sicherheitsrat das Problem.

Russland und China blockieren unterschiedliche Bestrebungen der internationalen Gemeinschaft, sei es nun die strafrechtliche Verfolgung des Assad-Regimes durch den Internationalen Strafgerichtshof, eine Verurteilung durch den UN-Sicherheitsrat, oder die Einsetzung einer Blauhelm-Mission, wie die Arabische Liga sie vorgeschlagen hat. Was wäre angesichts der andauernden Gewalt Ihre Botschaft an die Führung in Moskau und Peking?

Diese Vetos sind für mich ein Beispiel für gefühlskalte Gleichgültigkeit gegenüber den Leben der syrischen Bevölkerung. Da ist Weltpolitik auf dem Rücken der syrischen Bevölkerung ausgetragen worden. Ich denke, dass Russland den Anführer gegeben hat und China mitgezogen ist – alleine hätte China kein Veto eingelegt, aber es ist Russland gerne gefolgt.

Human Rights Watch executive director Kenneth Roth
Kenneth RothBild: dapd

Was Russland zu schätzen weiß ist, dass das Assad-Regime sozusagen sein letzter Freund im Nahen Osten und Nordafrika ist und darüber hinaus ein bedeutender Abnehmer russischer Waffen. Russland schaut immer noch durch die Brille des Kalten Krieges auf die Demokratisierungsbewegungen in Nordafrika und dem Nahen Osten. Und es scheint sehr gegen irgendeine Art von Entwicklung in puncto Menschenrechte zu sein – es hat Angst, einen engen Verbündeten zu verlieren. Das ist eine sehr zynische Haltung und viele europäische aber auch andere Regierungen werden Russland hoffentlich dafür verurteilen, dass es sich genau gegensätzlich dazu verhält, wie man es von einem ständigen Mitglied des Sicherheitsrats erwarten könnte.

Wir hoffen, dass aus dem Veto Russlands und Chinas eine Lektion gelernt wird, nämlich dass eine neue Norm im UN-Sicherheitsrat nötig ist um zu verhindern, dass ständige Mitglieder ihre Veto-Macht in Situationen ausüben können, in denen massenweise Gewalttaten verübt werden. Ich bin mir durchaus bewusst, dass die Vereinigten Staaten sich in der Vergangenheit dieses Verhaltens ebenso schuldig gemacht haben, wie Russland und China es jetzt getan haben. Wir brauchen also eine wirkliche Veränderung vonseiten einer Reihe der ständigen Mitglieder. Aber es gibt ein dringendes Bedürfnis nach einer solchen Änderung, und die syrische Bevölkerung spürt gerade sehr schmerzhaft, dass es im Sicherheitsrat keine verantwortungsbewussteren Verhaltensregeln gibt.

Das Prinzp der Schutzverwantwortung wird gewissermaßen als neues Konzept internationaler Einmischung verstanden um massenhafte Gewalt- und Gräueltaten zu verhindern – Libyen war ein herausragendes Beispiel für dieses Konzept. Inwiefern schadet der Fall Syriens, in dem bisher nicht gehandelt worden ist, diesem Konzept?

Ich denke es ist falsch zu sagen, dass gar nicht gehandelt worden ist. Es ist wichtig daran zu erinnern, dass es bei der Schutzverantwortung, die sicherlich im Falle Syriens geboten ist, nicht nur um militärisches Handeln geht. Es geht um eine Reihe von Schritten, mit denen die internationale Gemeinschaft einschreiten und Druck auf eine Regierung aufbauen kann, die ihrer Verantwortung, ihr eigenes Volk zu schützen, nicht nachkommt. Im Fall Syriens wird ja nicht mal versucht, die Bevölkerung zu schützen, stattdessen wird die Bevölkerung umgebracht. Es besteht also eine Verpflichtung, zu handeln.

Aber wir haben bereits sehr positives – ich würde sagen: nie dagewesenes – Handeln zum Beispiel von der Arabischen Liga gesehen: Sie hat Sanktionen verhängt, sie hat dafür gekämpft, Beobachter zu entsenden und hat diese auch eine Weile entsendet, und zuletzt hat sie einen Einsatz von UN-Blauhelmen gefordert – auch wenn Syrien einen solchen Einsatz ablehnt. Auf einer lokalen Ebene ist also durchaus gehandelt worden. Die Europäische Union, die Vereinigten Staaten und andere Länder haben Sanktionen verhängt und all das sind positive Schritte, die auf ihre Art im Rahmen der Schutzverantwortung den Druck auf Damaskus erhöhen. Offensichtlich ist es noch unzureichend und es müssen weitere Wege gefunden werden, mehr Druck aufzubauen wenn Assad – oder wenigstens die Menschen um ihn herum – erkennen, dass dieser Weg der gewaltsamen Unterdrückung nirgendwohin führt und dass man irgendeine Art von Einigung mit denen herbeiführen muss, die sich eine demokratischere Zukunft für Syrien wünschen.

Würden Sie zustimmen, dass, im Vergleich zu Libyen, die internationale Gemeinschaft – speziell Frankreich und Großbritannien, die den Einsatz gegen Gaddafi vorangetrieben haben – im Falle der Taten von Baschar al-Assad eher zurückhaltend agiert?

Frankreich und Großbritannien haben als EU-Mitgliedsländer das Öl-Embargo, also zielgerichtete Sanktionen gegen Syrien, mitgetragen. Das war also schon einmal gut. Ich nehme an, Sie spielen darauf an, dass Großbritannien und Frankreich Syrien zurzeit nicht so bombardieren, wie sie es im Falle Libyens getan haben. Dafür gibt es viele Gründe - angefangen mit der Opposition bzw. den Rebellen, die in Syrien viel unorganisierter sind, als das in Libyen der Fall war, über eine Armee, die viel fähiger und in sich geschlossener ist, bis hin zu einer größeren Vielschichtigkeit und Komplexität des Landes. Es gibt wenige Menschen, die sich zurzeit für eine militärische Intervention in Syrien aussprechen. Ich persönlich würde eine Intervention nicht ausschließen für den Fall, dass die Repression anhält. Aber aktuell ist das nicht das Thema, über das gesprochen wird. Es geht um weitere Formen von Sanktionen und um diplomatischen Druck, um Damaskus zu isolieren und um klar zu machen, dass dieser außerordentlich gewalttätige Weg nicht weiter gangbar ist.

Könnte es denn sein, dass sich die Geschichte wiederholt und die Welt dabei steht und zuschaut, während Baschar al-Assad die gleiche “verbrannte-Erde-Politik” wiederholt, die sein Vater vor 30 Jahren verfolgt hat, als er eine Revolte in Hama blutig niedergeschlagen hat?

Interessant daran ist, dass Hafiz al-Assad mindestens 10.000 Menschen umgebracht hat und die Welt es kaum bemerkt hat. Es gab wenn überhaupt dann nur ganz wenige Reaktionen. Heutzutage ist die Welt entrüstet darüber, dass Hafiz' Sohn Baschar eine ähnlich brutale Strategie verfolgt. Es werden Sanktionen verhängt und Embargos, es werden Botschafter abgezogen und das syrische Regime isoliert – da ist also durchaus ein Fortschritt zu verzeichnen. Man kann die Reaktion der internationalen Gemeinschaft dieser Tage überhaupt nicht mit der auf das Massaker von Hama von 1982 vergleichen. Dennoch ist die bisherige Reaktion auf das derzeitige Geschehen unzureichend. Die Herausforderung besteht nicht darin, Gleichgültigkeit zu überwinden – sie besteht vielmehr darin, die weitverbreitete große Sorge so weit zu treiben, dass die Gewalttaten in Syrien aufhören. Und ich hoffe sehr, dass das besser heute als morgen passiert.

Worauf hoffen Sie und was ist Ihr Rat an die internationale Gemeinschaft, um mehr Druck auf das Assad Regime ausüben zu können?

Mein Rat besteht zum einen darin, anzuerkennen dass das, was bisher passiert ist, unzureichend ist und andere Maßnahmen erforderlich sind. Und zum anderen besteht er darin zu erkennen, dass Zeit ein entscheidender Faktor ist und jeden Tag sehr viele Menschen in Syrien umgebracht werden. Es handelt sich also nicht um eine Angelegenheit, in der man einfach mal ein paar Wochen oder Monate abwarten kann, um zu schauen, wie sich die Dinge entwickeln. Es gibt hier dringenden Handlungsbedarf.

Hätte es das Veto Russlands und Chinas nicht gegeben, hätten wir bereits beobachten können, wie bedeutend mehr Druck ausgeübt wird. Ich hoffe, dass Moskau und Peking einen hinreichend hohen Preis für ihre Gleichgültigkeit zahlen müssen, indem ihr internationaler Ruf leidet. Und ich hoffe, dass sie einen Weg finden, mehr Druck auf Damaskus auszuüben trotz ihrer engstirnigen geopolitischen Überlegungen, die derzeit dazu führen, dass sie sich eher auf die Seite eines brutalen Unterdrückers stellen, als auf die der syrischen Bevölkerung.

Kenneth Roth ist Geschäftsführer von Human Rights Watch, einer der führenden Menschenrechtsorganisationen. Er hat auf der ganzen Welt zahlreiche Untersuchungen zur Situation der Menschenrechte durchgeführt.

Die Fragen stellte Michael Knigge
Redakteur: Rob Mudge