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Basisdemokratisch

Das Interview führte Aarni Kuoppamäki7. Juni 2007

Rund um Heiligendamm begegnen sich unterschiedliche G8-Kritiker. Aktivistin Jule vertritt die radikalen Protestler. Im Interview mit DW-WORLD.DE erklärt sie ihre Sicht der Dinge, die so neu nicht sind.

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Protestlerin Jule
Jule will nicht nur mehr Gerechtigkeit, sondern auch mehr Eigenverantwortung.Bild: Aarni Kuoppamäki

Das "Convergence Center" in einem ehemaligen Schulgebäude in Rostock-Evershagen ist ein Ort, an dem Globalisierungskritiker einander kennen lernen und die Proteste gegen den G8-Gipfel planen. Das Spektrum reicht von etablierten Organisationen wie Attac, über die Linkspartei bis hin zu linksradikalen Autonomen. Jule, Sozialpädagogik-Studentin aus Berlin, hat das Begegnungszentrum seit März mit aufgebaut.

DW-WORLD.DE: Für viele ist die Organisation Attac der Inbegriff der globalisierungskritischen Bewegung. Das Dissent Network, mit dem du assoziiert bist, ist auch globalisierungskritisch, lehnt Attac aber ab. Wieso?

Jule: Ich lehne Attac ab, weil es eine hierarchische Struktur und Leute gibt, die im Namen von Attac sprechen. Nach den Krawallen am Samstag (2.6.07) haben diese Leute gesagt: "Nie wieder Linksradikale, nie wieder Autonome!" Die Polizei hat mir am Samstag drei Mal Pfefferspray ins Gesicht gesprüht, obwohl ich keinen Stein angefasst habe. Attac hat sich bei der Polizei entschuldigt, anstatt weiter zu differenzieren. Das Dissent Network ist nicht hierarchisch strukturiert und betreibt keinen Personenkult – weswegen ich meinen vollen Namen für mich behalte. Das Netzwerk ist autonom, unabhängig, frei und selbstorganisiert.

Wie es scheint, ändert sich die Struktur von Nichtregierungsorganisationen mit der Zeit immer. Greenpeace zum Beispiel war vor Jahrzehnten auch radikaler, als es heute ist.

Ja, was Greenpeace jetzt zum G8-Gipfel macht, ist kontraproduktiv. Die Führer der mächtigsten Wirtschaftsnationen der Welt um etwas zu bitten, das bringt nichts. Wir erkennen die G8 nicht an, sie sind ein illegitimes Gremium, das Richtlinien setzt, die später in nationales Recht umgesetzt werden. Ich bin Anarchistin.

Das heißt, du lehnst Herrschaft generell ab. Wie sähe denn für dich eine gute Gesellschaft aus?

Eine gute Gesellschaft wäre basisdemokratisch. Die meisten Menschen lassen sich leiten, ohne die eigene Verantwortung zu spüren. Basisdemokratie würde heißen, dass die Menschen eingebunden sind in das, was um sie herum passiert.

Das würde zunächst bedeuten, dass es mehr Volksentscheide gäbe. Besteht nicht die Gefahr, dass Stimmungen dann die Politik bestimmen würden – oder Medien, die die Stimmungen transportieren?

Das wäre sehr schwierig. Es braucht einen langen Entwicklungsprozess. Momentan sind die Medien von der Staatsgewalt gesteuert, dass es schlimmer nicht sein könnte. Die Berichterstattung über die Krawalle am Samstag war im Interesse der Regierenden und wurde benutzt, um die Proteste während des G8-Gipfels niederzuschlagen. Die Polizei hat Wasserwerfer in die Menge gehalten und später Leute mit der Begründung festgenommen, sie seien nass, und hätten deswegen wohl etwas verbrochen. Aber das wurde in den Medien nicht behandelt.

Wenn 1000 Menschen verletzt werden, dann muss doch darüber berichtet werden.

Die Medien springen auf das Reizthema Gewalt an und vergessen die Inhalte, um die es geht. Das System ist gewalttätig. Ziviler Ungehorsam ist ungesetzlich, aber die Strukturen lassen uns keine andere Wahl. Die Leute regen sich über ein brennendes Auto und Steinewerfer auf. Aber das alles fällt nicht ins Gewicht gegen Umweltverschmutzung, Krieg, Folter, Hunger, Arbeitslosigkeit, Privatisierung von Sozialleistungen...

Ist es nicht ein bisschen einfach, das alles auf die G8 zu schieben? Könnte es nicht sein, dass das Probleme sind, die es immer geben wird – unabhängig davon, wer regiert?

Meinst Du, Krieg ist menschlich? Es gibt Gesellschaften, die basisdemokratisch leben und keine Kriege führen. Die Regierungen sind nicht Schuld an allem, die Konzerne sind auch verantwortlich. Die Konzerne werden aber unterstützt, weil die Regierungen davon profitieren.

Wo gibt es denn Beispiele für funktionierende Basisdemokratie?

Es gibt die basisdemokratische Bewegung wie das Dissent Network. Es gibt die Indios im mexikanischen Bundesstaat Chiapas, die sich seit 1994 gegen die Regierung auflehnen. Natürlich sind Sexismus und Umweltverschmutzung dort nicht überwunden. Aber da versuchen Menschen, die Dinge besser zu machen. Die Welt ist nicht gut dadurch, aber wenigstens gibt es eine Auseinandersetzung mit den Themen, die wichtig sind, und die Menschen wissen, dass sie eine Verantwortung haben.

Eine Regierung muss ihre Bürger schützen. Angenommen, es gäbe in einem basisdemokratischen Staat einen Aufstand von Rechtsradikalen, die Völkermord an einer ethnischen Minderheit begehen. Was macht die Regierung dann?

In einem basisdemokratischen Staat würde es gar nicht soweit kommen. Wenn du als Kind basisdemokratisch aufwächst, wenn du erfährst, dass du geliebt und gebraucht wirst, dann wirst du kein Nazi. Dann hast du Achtung vor den Menschen.

Das klingt, als bräuchten wir nicht eine andere Regierung, sondern einen anderen Menschen.

Wir brauchen einen Menschen, der lernt, wie man mit seiner Selbstbestimmung umgehen kann. Das ist eine hoffnungsvolle Weltsicht. Wir können nicht die Regierung abschaffen und sagen jetzt ist Anarchie. Aber noch mal zur Frage der Schutzes: Der Staat schützt uns nicht vor menschenverachtendem Gedankengut.

Die Freiheit der Gedanken und die Freiheit des Wortes gelten für alle.

Aber nicht, wenn sie die Freiheit von anderen einschränken.

Was ist mit der Freiheit der breiten Masse, sich in die bestehenden Strukturen von Regierungen und multinationalen Organisationen einzufügen?

Ich würde sagen: Das ist keine Freiheit, das ist eine Lähmung. Wir müssen basisdemokratische Arbeit leisten, damit die Menschen den Wunsch bekommen, selbstbestimmt zu leben.