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Eine Notidee wird zum Exportschlager

17. Juni 2011

Aus den deutschen Dörfern ziehen die Einkaufsmöglichkeiten weg. In Jülich-Barmen haben die Bewohner ein "DORV"-Zentrum errichtet, um sich selbst zu helfen. Mittlerweile läuft das Konzept so gut, dass es exportiert wird.

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Eine Besuchergruppe im DORV-Zentrum in Jülich-Barmen (Foto: DW)
Heinz Frey (M.) zeigt einer Besuchergruppe das DORV-ZentrumBild: DW

Hier, wo sich scheinbar Fuchs und Hase "Gute Nacht" sagen - auf dem flachen Land also am sprichwörtlichen Ende der Welt - soll sich das Rezept befinden, mit dem deutsche Gemeinden vor dem Verfall gerettet werden können: Das Modell "Dienstleistungen und Ortsnahe Rundum-Versorgung" (DORV) bietet dem Dorf eine Alternative, wenn Bank und Bäcker, Metzger und Post nicht mehr vor Ort vertrteten sind.

Das DORV-Zentrum in Jülich-Barmen (Foto: DW)
Früher residierte im DORV-Zentrum eine SparkasseBild: DW

Wir sind in Barmen, einem Stadtteil von Jülich mit 1400 Einwohnern, idyllisch gelegen zwischen Köln und Aachen. Ab und an kommt mal ein Auto auf der Kirchstraße entlang und stört die dörfliche Ruhe. Fast erkennt man das DORV-Zentrum nicht, denn über dem Eingang prangt noch der große rote Schriftzug der Sparkasse. Die hat ihre Filiale allerdings längst geschlossen und ist weggezogen. Im ehemaligen Tresorraum der Bank haben die Barmener Bürger mittlerweile ein Café eingerichtet - und ihr DORV-Zentrum.

Heinz Frey hat den Dorfeinkaufsladen mit auf die Beine gestellt. Sein Bart und seine Haare sind grau meliert, aber der 54-Jährige sprüht vor Tatendrang. Zwei interessierte Gemeinden haben sich für den heutigen Tag zum Besuch angekündigt.

Heinz Frey am Geldautomaten im DORV-Zentrum von Jülich-Barmen (Foto: DW)
Heinz Frey im DORV-Zentrum von Jülich-BarmenBild: DW

Auch sie wollen erfahren, ob sich ihre Orte mit dem DORV-Konzept aus Barmen retten lassen. Die Resonanz sei sehr hoch, sagt der DORV-Gründer und -Manager, der im Hauptberuf Gymnasiallehrer ist, weil das Problem akut sei. "Mittlerweile ist auch in der Politik angekommen, was bei den Bürgern schon lange angekommen ist," meint Frey, der nun sogar im Expertenrat des Bundesbauministeriums mitarbeitet. Es dauere halt immer etwas länger, bis eine Problematik ihren Weg von den Bürgern in die Politik schaffe.

Engagement der Bürger ist der Schlüssel

Als ersten Schritt führen Frey und seine Mitstreiter eine sogenannte Basisanalyse mit den interessierten Gemeinden durch. Hier wird genau aufgeschrieben, wie hoch die Einwohnerzahl ist, welche Infrastruktur vorhanden ist und ob es noch einen Bäcker oder Fleischer gibt.

Jürgen Spelthann (Foto: DW)
Jürgen Spelthann - engagiert für das DORV-ModellBild: DW

Ganz wichtig in diesem ersten Prozessschritt sei es auch, das Engagement der Bürgerinnen und Bürger im Ort abzuklären, denn nur damit könne das Projekt gelingen, ergänzt Jürgen Spelthann. Er ist von Beruf Stadtplaner und kam durch das starke Interesse am DORV-Modell zu einer halben Stelle als Projektleiter. Man müsse die Leute von Anfang an ins Boot holen, weil sie es sind, "die den Prozess tragen und die darüber entscheiden, ob sowas funktioniert oder nicht. Denn sie sind diejenigen, die nachher einkaufen", sagt Spelthann.

Heinz Frey (r.) erklärt einer Besucherin, wie die Produktpalette funktioniert (Foto: DW)
Frey (r.) erklärt einer Besucherin die ProduktpaletteBild: DW

Als nächster Schritt findet in den Gemeinden eine Bedarfsanalyse statt. Hierbei gehen die Initiatoren des Projekts mit einem Fragebogen von Tür zu Tür und klären, was sich die Dorfbewohner von ihrem DORV-Zentrum wünschen und was sie von ihm erwarten: Ob sie in ihrem potentiellen Kaufmannsladen auch ihre Autos an- und ummelden können oder Pakete verschicken oder auch Medikamente bestellen wollen. Individuelle Lösungen sind dabei nötig, denn jeder Ort hat andere Bedürfnisse und Gegebenheiten.

Individuelles Konzept statt Angebot von der Stange

Die Brötchenauslage im DORV-Zentrum (Foto: DW)
Auch der örtliche Bäcker unterstützt den DORV-LadenBild: DW

"Es geht nicht so, dass wir kommen, denen einen neuen Laden bauen und die dann gefälligst einkaufen sollen." Es gehe vielmehr darum, durch Analysen ganz individuell hinzuschauen, welche vorhandenen Einrichtungen da sind und die mit einzubinden, sagt Frey. So müsse man auch sehen, ob vielleicht der ansässige Bäcker seine Brötchen für den Dorfladen liefern könne und er somit seinen Kundenkreis erweitern kann. Dies helfe am Ende allen, niemand werde ausgeschlossen und beschädigt.

Heinz Frey ist jetzt gleich auf dem Sprung, denn die erste Besuchergruppe des Tages ist da. Die Interessenten kommen aus der Gemeinde Eisenberg in Rheinland-Pfalz. Vor dem DORV-Zentrum gibt es eine kurze Begrüßung. Dann geht es schnell hinein zur Inspektion in den Laden. Die Besucher aus Rheinland-Pfalz haben dasselbe Problem, das früher auch in Barmen herrschte: Die Läden können sich nicht mehr im Ort halten, die Nahversorgung bricht weg. Die Gemeinden werden zu reinen Schlafsiedlungen.

Auf 100m² findet sich fast alles

Wursttheke im DORV-Zentrum von Jülich-Barmen (Foto: DW)
DORV-Laden: "Die tägliche Frische entscheidet"Bild: DW

Auf 100 Quadratmetern findet sich im DORV-Zentrum alles für den täglichen Gebrauch. Frey zeigt die Fleischtheke und die Brötchenauslage. Nur mit der täglichen Frische könne man beim Kunden punkten, Konserven finden sich nur wenig. Aber dafür 90 Prozent des täglichen Bedarfs. In der Produktpalette gibt es ímmer ein Marken- und ein No-Name-Produkt, um auch den einkommensschwächeren Kunden etwas bieten zu können. Da die Auswahl im DORV-Zentrum so umfangreich ist, kann das Zentrum mit einer sehr hohen Kundenfrequenz rechnen.

Sogar einen Geldautomaten gibt es. Zum Geld holen kommen nämlich die meisten Kunden in den Laden - und wenn sie schon einmal da sind, dann nehmen sie vielleicht auch noch eine Zeitung oder ein frisches Brot mit. Den Discountern und großen Supermärkten will man aber keine Konkurrenz machen. "Wir können nicht das gesamte Einkaufsvolumen hier abschöpfen, sondern das ist nur zwischen 10 und maximal 25 Prozent möglich." Sowieso wolle man mit dem Dorfladen keinen Gewinn machen. Vielmehr ist eine schwarze Null das Ziel, Gewinne werden sofort investiert.

Bürger werden zu Aktionären

Das DORV-Modell ist ein Bürgermodell in Gemeinschaftsaktion. In Barmen konnten die Bewohner beispielsweise Anteile zu 250 Euro zeichnen. Das Geld wurde als Anfangsinvestition in den Laden gesteckt. Als Rendite erhielten die Anteilseigner ihr neues DORV-Zentrum und mehr Lebensqualität - und das sei durch Geld nicht aufzuwiegen, meinen nicht nur die Manager. Denn der Einkauf von Lebensmitteln ist im DORV-Zentrum nur ein Punkt.

Wichtig ist auch noch das Angebot von Dienstleistungen. Damit ist nicht nur die Paketannahme gemeint, sondern auch die medizinische Versorgung. In Jülich-Barmen investierten die Bürger in die Räumlichkeiten für eine Arztpraxis und lockten so einen Allgemeinmediziner direkt ans Zentrum. Mittlerweile hat sich sogar ein Kieferorthopäde aus freien Stücken auf der gegenüberliegende Straßenseite angesiedelt. Der Abwärtstrend kehrt sich wieder um, die Einrichtungen kommen wieder.

Das Interesse ist groß

Vor dem DORV-Zentrum wartet schon die nächste Besuchergruppe auf ihren Rundgang und Heinz Frey (Foto: DW)
Die nächsten Besucher wartenBild: DW

Die Besucher aus Eisenberg erhalten in der nahgelegenen Kirchengemeinde noch eine Präsentation. Die Besucher fühlen sich inspiriert, denn sie haben verstanden, dass es in ihrem Ort fünf vor Zwölf ist.

Heinz Frey hat den Vortrag der Präsentation inzwischen einem seiner Mitstreiter übergeben. Denn er heißt schon die nächste Besuchergruppe willkommen. Die ist aus Hessen mit einem Reisebus in die Kirchstraße gekommen.

Autor: Arne Lichtenberg
Redaktion: Hartmut Lüning