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Eine Postkarte für Ihre Gedanken

Deanne Corbett22. August 2005

In den Wochen vor den Bundestagswahlen bringt die US-amerikanische Künstlerin Sheryl Oring US-Basisdemokratie in die Straßen von Deutschland. Sie bietet den Bürgen die Chance, ihren Politikern ihre Sorgen anzutragen.

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Einmal Kanzler sein - wenn auch nur für fünf MinutenBild: DW

Wenn der Berufsverkehr am belebten Bahnhof Schönhauser Allee in Berlin beginnt, drängeln die Menschen und versuchen ihren Zug noch zu erwischen. Inmitten dieser schiebenden und drückenden Menge tippt eine junge Frau, deren Klamotte an eine Sekretärin aus den typischen Filmen der 1950er Jahren erinnert, auf einer altmodischen Schreibmaschine herum. Aufmerksam hört sie dem Mann zu, der ihr gegenüber sitzt und auf sie einredet. Auf dem Schild neben ihnen steht: "Wenn ich Kanzler wäre…"

Wenn ich Kanzler wäre… Kunstaktion Sheryl Oring Schönhauser Allee Arkaden in Berlin mit Brief
Mit einer alten Schreibmaschine beschreibt Oring die PostkartenBild: DW

Als der Mann seine Nachricht an die politische Führung Deutschlands zu Ende diktiert hat, drückt ihm die "Sekretärin" die beschriebene Postkarte in die Hand - mitsamt den nötigen Briefmarken. Der Mann betrachtet einige Stempel, die neben der Schreibmaschine liegen, und sucht sich schließlich jenen aus, auf dem "Dringend" steht. In hellem Rot leuchtet das Wort "Dringend" nun mitten auf seiner Postkarte. Die lässt er mit zufriedenem Gesicht in den Briefkasten fallen, der praktischerweise direkt in der Nähe zu finden ist.

Diese Szene - teils politisches Event, teils künstlerisches Happening - lässt die Passanten ihren Schritt verlangsamen. Einige schauen nur, während sich andere in der Schlange anstellen, um der "Sekretärin" ihr Anliegen vortragen zu können. Das alles ist die Idee der Frau, die dort in dem roten Sekretärinnen-Kostüm sitzt - der Künstlerin und Journalistin Sheryl Oring.

Im Jahr der amerikanischen Wahlen 2004 reiste Oring durch die Vereinigten Staaten, im Gepäck hatte sie ein einfaches Projekt namens "I wish to say". Sie tippte für über 1000 Menschen dessen Sorgen und Anliegen an den amerikanischen Präsidenten George W. Bush auf Postkarten. "Die Reaktion in den Staaten war so großartig, dass ich dachte, ich probiere das auch in anderen Ländern", sagt Oring, die zuvor in Deutschland studiert und gearbeitet hat und deshalb fließend Deutsch spricht.

Deutsche Grammatik

Obwohl sie die deutsche Sprache sehr gut beherrscht, sei sie doch etwas nervös gewesen, ihre "Show" nach Deutschland zu tragen.

Wenn ich Kanzler wäre… Kunstaktion Sheryl Oring Schönhauser Allee Arkaden in Berlin
Wenn ich Kanzler wäre… Kunstaktion Sheryl Oring Schönhauser Allee Arkaden in BerlinBild: DW

"Ich habe den Leuten gesagt, sie sollen langsam sprechen, weil ich keine Muttersprachlerin bin. Und als ich fertig war, habe ich ihnen die Chance gegeben, die Postkarte noch einmal zu lesen und Grammatikfehler zu korrigieren", erzählt Oring und lacht. Doch es habe auch Vorteile, Ausländer zu sein. Denn es mache die Menschen neugierig, sie seien eher bereit, mitzumachen.

"Ich wusste nicht, ob meine Idee in Deutschland funktioniert, aber die Deutschen hatten richtig Lust, mitzumachen", sagt Oring. "Die Menschen haben eine Menge Sorgen wegen der Arbeitslosigkeit und der Sozialleistungen zum Beispiel und sie möchten darüber sprechen. Die Menschen hier glauben nicht, dass die Medien oder die Politiker ihnen zuhören, aber dieses Projekt gibt ihnen die Möglichkeit, ihre Sorgen vorzutragen. Es ist irgendwie eine Art Service für die Bürger."

Thomas, ein 42-jähriger Berliner, sitzt bei Oring und erzählt ihr, wie unzufrieden er über die aktuelle wirtschaftliche und soziale Situation in Deutschland ist. Auf seiner Postkarte an Kanzler Gerhard Schröder schreibt er, dass Deutschland sich zu schnell an den USA orientiert, sobald es um Arbeitsmarktpolitik geht.

Wenn ich Kanzler wäre… Kunstaktion Sheryl Oring Schreibmaschine
Oring sammelt die unterschiedlichsten AnliegenBild: DW

"Die Menschen sind gezwungen, jeden Job anzunehmen, auch wenn sie überqualifiziert sind, nur um wieder an Arbeit zu kommen", sagt Thomas, der begeistert ist von Orings Projekt. "Wenn man seine Meinung in einem Kunstprojekt ausdrückt, weiß man, dass man nicht mit irgendwelchen Nachwirkungen zu rechnen hat", sagt er, "es ist ein sicherer Weg, seine Meinung kundzutun."

Diverse Anliegen

Während viele der Postkarten von typischen Wahlkampfthemen wie Arbeitslosigkeit oder Rente und Bildung handeln, nehmen sich andere Teilnehmer die Zeit an Orings "Schreibtisch", um ihren Ärger über ihr Haustier loszuwerden, oder lassen einfach ihrer Phantasie freien Lauf.

"Ich würde von allen Leuten, die ihren Hunden auf den Straßen nicht nachputzen, eine Gebühr abverlangen", schreibt ein verärgerter Berliner. "Ich wäre gerne der König von Berlin", schreibt ein anderer Bewohner der Hauptstadt, dessen Lösung für die Probleme Berlins ein "großes Kasino" ist, "und alle wären glücklich".

Auch der 8-jährige Gabriel hat sich in der Schlange vor Orings "Schreibtisch" angestellt. Er ist ganz aufgeregt und hat eine Liste mit Gesetzen in der Hand, die er dem Kanzler zukommen lassen möchte, inklusive eines, das "den Kindern erlaubt, überall Fußball zu spielen".

Wenn ich Kanzler wäre… Kunstaktion Sheryl Oring Schönhauser Allee Arkaden in Berlin
Bild: dpa

Es ist die Vielfalt der Anliegen, die Orings Arbeit am Laufen halt. Sie war mit "Wenn ich Kanzler wär…" in fünf deutschen Städten innerhalb von drei Wochen, und sie rechnet mit 200 Karten, die sie beschreiben wird. Sie behält eine Kopie jeder Karte für sich, hofft darauf, die Karten vielleicht mal auszustellen zu können oder in einem Buch zusammenzufassen.

"Ich bin immer wieder verwundert über die Anliegen der Menschen", sagt sie, "auch wenn ich dieses Projekt schon vorher gemacht habe, wiederholt es sich nie. Wenn ich neue Menschen treffe und eine wirklich bewegende Geschichte höre, denke ich, dass es das wirklich wert ist."