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Eine Schicksalsfreundschaft

Anastassia Boutsko17. März 2014

Vor 175 Jahren wurde Modest Mussorgski, vor 170 Nikolai Rimski-Korsakow geboren. Die Komponisten waren Zeitgenossen, Weggefährten und Gegensätze, ihre Freundschaft ein Glücksfall für die Musikkultur.

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Puschkins Familiengut Michailowskoje (Photo ITAR-TASS / Yuri Belinsky)
Bild: picture-alliance/dpa

In dem berühmten Roman "Eine Reise nach Petuschki" von Wenedikt Jerofejew, einem Poem über die weitverbreitete Trunksucht im Land, gibt es eine Episode, die bei russischen Intellektuellen Kultstatus genießt. "Es ist zum Lachen und zum Weinen", heißt es in der Übersetzung von Sergej Gladkich. "Modest Mussorgski liegt stockbesoffen im Straßengraben, als Rimski-Korsakow an ihm vorbeiläuft, im Smoking und mit einem Bambusstöckchen. Nikolai Rimski-Korsakow bleibt stehen, kitzelt Modest mit seinem Stöckchen und sagt: Steh auf, Schwein! Wasch dich mal und schreibe weiter deine geniale Oper Chowanstschina!" An der Geschichte ist viel dran. Mehr noch: Es könnte fast genau so passiert sein.

Adel, Armee und die Musik

Ihre Geburtstage liegen nicht weit auseinander: Modest Petrowitsch Mussorgski kam am 21. März 1839 zur Welt, Nikolaj Rimski-Korsakow am 18. März 1844. Da Mussorgskis Geburtstag auf den Tag seiner Taufe datiert wird, ist es sogar nicht auszuschließen, dass sie am gleichen Märztag das Licht der Welt erblickten. Nur war Mussorgski eben fünf Jahre älter.

Auch sonst gibt es viele Ähnlichkeiten in ihrer Geschichte: Beide kamen nördlich von Petersburg auf den Landgütern ihrer Familien zu Welt; Mussorgski bei Pskow, Rimski-Korsakow bei Nowgorod. Die Orte liegen keine 200 Kilometer voneinander entfernt. Beide stammten aus verarmtem Adel und mussten daher ihren Unterhalt früh selbst bestreiten. Die jungen Männer traten in die Fußstapfen ihrer Vorfahren und gingen zur Armee, Mussorgski zur Garde, Rimski-Korsakov zur Marine. Doch dann erwischte beide die Leidenschaft für die Musik.

Portrait Mussorgskis von Ilja Repin @wikipedia
Das berühmte Portrait Mussorgskis von Ilja Repin entstand zehn Tage vor dem Tod des KomponistenBild: Gemeinfrei

Gemeinsame Tage im Mächtigen Häuflein

Durch Mili Alexejewitsch Balakirew lernten sich die jungen Männer endlich kennen. Der Komponist Balakirew ist Gründer und Anführer der Künstlergruppe "Mächtiges Häuflein", auch als "Gruppe der Fünf" bekannt. Sie selbst nannten sich "Novatoren", Erneuerer, und ihr Ziel war es, eine nationale Tonkunst zu erschaffen.

Kein Tag verging ohne intensivsten Austausch. Eine Zeit lang teilten sich Mussorgski und Korsakow sogar eine kleine Wohnung in Petersburg - und ein Klavier. "Wir haben uns gegenseitig nicht gestört", erinnerte sich Rimski-Korsakow später. "Modest benützte das Instrument bis zwölf Uhr, in dieser Zeit arbeitete ich an der Partitur. Danach musste er zum Dienst im Ministerium, er bestritt sein Einkommen als Beamter, und ich hatte das Klavier für mich."

Ein weiteres Mitglied des "Häufleins", der Komponist Alexander Borodin, beschrieb die Situation so: "Seitdem Modinka und Korsinka im gleichen Zimmer wohnen, ergänzen sich die beiden gegenseitig, so gegensätzlich sie in ihrer Musikauffassung auch sein mögen. Modest hat Korsinkas Rezitativtechnik übernommen, dieser hat seinerseits das Streben zum biederen Besonderssein bekämpft. Ihre Beziehung ist bar jeder Gier, Eitelkeit und Eifersucht auf die Erfolge des jeweils anderen."

Freunde und Gegenpole

Die Idylle war allerdings bald vorbei, die Wege der Männer trennten sich. Rimski-Korsakow wurde Berufsmusiker; als Professor des ersten russischen Konservatoriums in Petersburg bildete er die nächste Generation Komponisten aus, darunter Glazunow, Strawinsky und Prokofjew. Er gründete eine Musterfamilie und wurde Vater von sieben Kindern. Mussorgski verspottete den Freund als "bieder gewordenen Musikbeamten". Rimski-Korsakow starb 1908 im Alter von 64 Jahren. Er war Urheber von 15 Opern und unzähligen Instrumentalwerken und brachte es als Patriarch russischer Musik zu Weltruhm.

Der Komponist Nikolai Rimski-Korsakow
Der Patriarch Nikola Rimski-KorsakowBild: picture-alliance

Ganz anders Mussorgski. Nachdem sich die Wege der beiden trennten, ergab er sich dem vermeintlich süßen Leben der Bohème. Er blieb ledig, trank immer mehr und arbeitete nur noch in seltenen hellen Momenten, bis es zur Katastrophe kam: Am 28. März 1881 starb der gerade mal 42-Jährige an den Folgen seiner Trunksucht. Nach seinem Begräbnis trauerte Rimski-Korsakow zwar um den Freund, ließ sich aber auch voller Wut über den "Selbstverderber" aus.

Ein unglaubliches Experiment

Nach dem Tod Mussorgskis beschränkte sich sein sichtbares Schaffen auf ein einziges Großwerk: die Oper "Boris Godunov". Ferner waren "Bilder einer Ausstellung" und ein paar Vokalwerke bekannt. Der Rest schlummerte im Dunkeln. Vom Jugendwerk "Salambo", der Kammeroper "Mozart und Salieri" und dem majestätischen Torso des nicht vollendeten Zentralwerks "Chowanschtschina" wussten nur einige wenige Freunde.

Was Nikolai Rimski-Korsakow in den 27 Jahren nach dem Tod des Freundes vollbrachte, war ein wohl weltweit einmaliges Experiment: Aus verschmierten Fetzen, losen Skizzen, Fragmenten und Entwürfen, die nur schwer einzuordnen waren, schuf er jenen großen Mussorgski, den die Welt heute kennt. Rimski-Korsakow hielt Mussorgski für das größte Genie der nationalen Musikkultur - größer und origineller als er selbst.

Szene aus der Oper Boris Godunow
Noch heute steht Mussorgskis Oper Boris Godunow regelmäßig auf dem SpielplanBild: Wilfried Hösl

So komponierte er Unvollendetes aus Mussorgskis Feder fertig, orchestrierte, kümmerte sich um Veröffentlichungen, organisierte Aufführungen. Fast drei Jahrzehnte lang verging kein Monat, ja, kaum ein Tag, ohne dass er sich mit Mussorgskis Werk beschäftigte. Zum letzten Mal legte er nur wenige Tage vor seinem Tod Hand an und schrieb die Orchestrierung von Fragmenten der Krönungsszene aus "Boris Godunow" für die Pariser Uraufführung der Oper durch Sergej Djagilew.

Die moderne Musikwissenschaft ist mit Rimski-Korsakows teilweise rigorosen Interventionen in Mussorgskis Tonwelt nicht immer glücklich, doch seine Leistung für das musikalische Erbe des Freundes ist nicht zu unterschätzen.