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Von der Erde verschluckt

Juri Rescheto12. September 2016

Beresniki in der Region Perm steht für Kalisalz. Das wertvolle Mineral wird dort seit 80 Jahren abgebaut. Es ernährt die Stadt und zerstört sie gleichzeitig. Viele Bewohner leben in Angst. Aus Beresniki Juri Rescheto.

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Verrammelte Häuser im russischen Beresniki (Foto: DW/J. Rescheto)
Bild: DW/J. Rescheto

Nichts zeugt von der Katastrophe. Erst einmal nichts. Das blaue Planschbecken. Die roten Kirschen. Tomaten, Kartoffeln und Dill. Eine Idylle. Irgendwo am Ural.

Nichts zeugt von der Katastrophe, wenn man nur im Garten bleibt. Dem Garten von Irina und Andrej Chorow. Beide um die 40. Seit 13 Jahren hier wohnhaft. Wie lange noch? Das wissen sie nicht.

Die Katastrophe wird sichtbar, wenn man den Garten verlässt und ins Haus der beiden geht. Dann sieht man die Risse. Überall. Fingerdick in der Fassade. Unter der aufgerissenen Tapete in den Zimmern. An der Decke und neben dem Fensterbrett. "Es kracht, an allen Ecken", beschwert sich Andrej. "Das Haus steht schief. Die Türen kriegt man nicht mehr richtig geöffnet. Das Gebäude wird auseinandergezogen. Wir können nichts machen."

Die Nachbarn sind lange weg

Das Haus am Stadtrand von Beresniki ist der Traum von Andrej und Irina. Vor dreizehn Jahren haben sie es gebaut. Sie waren fröhlich und stolz. Jetzt müssen sie zusehen, wie es auseinanderfällt. Jeden Tag ein bisschen mehr. Wie ein Kartenhaus.

Das Ehepaar Chorow (Foto: DW/J. Rescheto)
Das Ehepaar Chorow macht sich Sorgen um die ZukunftBild: DW/J. Rescheto

"Dort drüber, fünf Meter weiter ist die Gefahrenzone, dort darf man nicht mehr leben." Andrej zeigt aus dem Fenster auf das mittlerweile leer stehende Haus gegenüber. "Die Nachbarn zogen aus und bekamen dafür Geld. Hier aber, wo wir wohnen, ein paar Meter weiter, soll alles gut sein, trösten die Behörden. Wir müssen hier wohl weiter leben."

Das Haus der Chorows steht in einem Stadtteil von Beresniki, der langsam, aber sicher untergeht. In der Erde öffnen sich Löcher. Krater. Mal sechs Meter im Durchmesser, mal sechshundert. Mal verschlucken sie Bäume, mal ganze Verwaltungsgebäude. Das Haus der Chorows steht auf einer Mine. Diese Mine ist achtmal größer, als die ganze Stadt, die auf ihr jahrzehntelang gebaut wurde. Platz für elftausend fünfstöckige Plattenhäuser in vierhundert Meter Tiefe.

Die sowjetischen Bergleute gruben zu gierig

Mit einer Sondergenehmigung und einer dreiköpfigen Begleitung darf ich diese Mine besuchen. Sie gehört mittlerweile Uralkali, einem der mächtigsten Kali-Produzenten der Welt. Wir fahren durch den Stollen. Durch unterirdische Gänge, die in den Sackgassen enden. Dort stehen Maschinen, die das Kalisalz fördern.

Jahrzehnte gruben die sowjetischen Bergleute in die Tiefe und hinterließen den unvorstellbaren Hohlraum von 84 Millionen Kubikmetern. Ein beklemmendes Gefühl, wenn man weiß, dass diese Mine in sich zusammenfallen könnte. Denn die sowjetischen Bergleute gruben zu gierig, nicht immer nach Vorschrift. Und so drückte eines Tages das Wasser in die Mine, die Salzschichten lösten sich auf, die Gesteine darüber brachen in die ausgeschwemmten Löcher. Die Oberfläche gab nach. Seitdem öffnet sich die Erde. Oben. In manchen Stadtvierteln von Beresniki.

Der untergegangene Schacht. Im Krater ist heute ein See entstanden (Foto: DW/J. Rescheto)
Der untergegangene Schacht. Im Krater ist heute ein See entstandenBild: DW/J. Rescheto

Laut Uralkali soll der Stollen heute sehr sicher sein. Es gebe keine Gefahr für die Bevölkerung: "Die Decke wird gestützt. Mit den so genannten Ankern. Sie werden hineingebohrt und halten so die Decke an der höher liegenden und stärkeren Salzschicht. Es macht das Ganze stabil", versichert Ingenieur Alexander Kladov unten im Schacht. Man arbeite nach internationalen Standards.

Von der Schule geht Lebensgefahr aus

Oben beim Tageslicht glauben die Chorows nicht an solche Standards. Von ihrem Haus aus sehen sie die Kirche. "Früher", sagt Andrej "konnten wir nur die Spitze des Glockenturms sehen. Weil davor ein Gebäude stand. Es ist jetzt fast weg. Untergegangen. Von der Erde verschluckt." Die Kirche steht ein paar Kilometer von den Chorows entfernt. Sie ist mit einem Blechzaun gesperrt. Die Schule aber ist gleich um die Ecke. Auch sie ist mittlerweile umzäunt: "Lebensgefahr!" Sie neigt sich zur Seite, man sieht, wie schief das dreistöckige Gebäude mittlerweile steht. Davor soll ein Loch sein. Im Boden. Ich darf dort nicht hin.

Stattdessen darf ich die andere Gefahrenzone besuchen, die vor neun Jahren Schlagzeilen machte. Den alten Hauptschacht. Mittlerweile geschlossen. 2007 öffnete sich hier zum ersten Mal die Erde. Ein Krater, dessen Wände 350 Meter in die Tiefe stürzten. Die Stadtverwaltung evakuierte 2000 Menschen. Drei Jahre später wurde der Bahnhof von Beresniki zur Gefahr für die Menschen. Er wurde dicht gemacht. 2011 explodierte Methangas, das aus einem Krater aufstieg. Heute ist hier ein See.

"Die Stadtverwaltung wartet wohl, bis irgendein Haus einstürzt"

Mittlerweile werden solche Gefahrenzonen mit Kameras überwacht, drei Mitarbeiterinnen eines Kontrollzentrums machen Monitoring, jede Veränderung wird fixiert. Auch wirkt die Stadt außerhalb solcher Zonen lebendiger denn je. Der großzügige Zentralplatz vor der Stadtverwaltung ist mit Blumen und Wasserfontänen geschmückt. Eine neue Kirche wird gerade gebaut. Viele Betroffenen werden entschädigt. Viele, aber nicht alle. Die Chorows müssen dafür kämpfen.

"Unsere Zukunft ist ungewiss. Unsere Stadtverwaltung wartet wohl, bis irgendein Haus einstürzt und jemanden erschlägt. Dann wird sie vielleicht auch bei uns aktiv", regt sich Andrej auf.

Die wertvollen Sachen sind schon bei Freunden

Die Behörden haben sein Haus nämlich als "teils bewohnbar" eingestuft. Die Kompensationssumme, die das Ehepaar bekommen würde, wenn es denn auszieht, stehe in keinem Verhältnis zum tatsächlichen Wert, klagt der Hausbesitzer. "Sollte es aber doch einstürzen, wollen wir vorbereitet sein", scherzt Andrej. "Wir bringen schon mal die wertvollen Sachen zu Freunden und Verwandten. Den Pelzmantel im Winter und ihre Schuhe im Sommer. Damit wir in Panik nicht die Sachen erst zusammensuchen müssen."

Was bleibt ist die Hoffnung. Dass man sich mit Behörden doch irgendwie einigt. Dann könnten Andrej und Irina ein neues Haus bauen. In einem sicheren Stadtteil. Denn seinen Glauben an Beresniki haben sie noch nicht verloren.