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Eine Stadt verschwindet

Martin Roddewig14. November 2012

Einst Bergbauzentrum, heute immer stärker schrumpfende Kleinstadt: Johanngeorgenstadt ist ein Opfer des Strukturwandels. Perspektiven für die Zukunft sehen die Bewohner in dem Ort im Erzgebirge kaum.

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Die Kirche in der früheren Altstadt von Johanngeorgenstadt Foto: Martin Roddewig (DW)
Bild: Martin Roddewig

Nur drei Frauen im Rentenalter sind ausgestiegen. Die Schaffnerin grüßt sie wie alte Bekannte, bevor sie das Signal zur Weiterfahrt gibt. Pünktlich fährt der Zug nach Chemnitz weiter. Ruhe kehrt ein auf dem Bahnhof von Johanngeorgenstadt im Süden Sachsens. Einsam liegt er, etwas außerhalb des Zentrums, in einem tief eingeschnittenen Tal, umringt von bewaldeten Hängen. Nur ein verlassenes Fabrikgebäude ragt aus den Baumwipfeln heraus und erinnert daran, weshalb Johanngeorgenstadt zu trauriger Berühmtheit gelangte: Kaum eine Stadt hat durch den Strukturwandel im Erzgebirge in den vergangenen Jahrzehnten so viele Einwohner verloren. Zur Blütezeit lebten hier in den 1950er Jahren an die 45.000 Menschen. Heute sind es gerade noch 4.500.

Am Ausgang des Bahnhofs lockt ein von Hand geschriebenes Schild: Gulasch - 3,50 Euro. Anja Gysler arbeitet im Bahnhofsrestaurant. Auch sie will weg, nach Stuttgart, wo ihre Schwester wohnt. "Johanngeorgenstadt ist eine schöne Stadt, wenn man Rentner ist", sagt sie. "Für junge Leute bietet sie nichts."

Der Bahnhof von Johanngeorgenstadt Foto: Martin Roddewig (DW)
Nur selten Endstation: Bahnhof von JohanngeorgenstadtBild: Martin Roddewig

Aber es gibt auch Johanngeorgenstädter, die sich fürs Bleiben entschieden haben. Frank Vollert gehört dazu. Er arbeitet als Gästeführer in einer der Hauptattraktionen der Stadt: das Besucherbergwerk "Glöckl". Voller Begeisterung steht Vollert vor dem Eingang und erzählt von seiner Stadt, von der Jahrhunderte-langen Bergbautradition und was die Besucher heute im früheren "Schacht 1" erwartet. 500 Meter geht es in den Berg hinein, bis man nur wenige Meter unter dem ehemaligen Marktplatz der früheren Altstadt steht.

Eine Stadt wird abgerissen

Doch über Tage ist vom einstigen Zentrum kaum noch etwas übrig. Dort, wo es verwinkelte Gassen mit Geschäften und Wohnungen gab und früher das Rathaus war, stehen jetzt nur noch wenige Häuser. Das markanteste Gebäude zwischen den Bäumen und Grünanlagen ist die Kirche. Die Altstadt existiert nicht mehr.

Der Grund: Auf Druck der UdSSR wurde hier nach dem Zweiten Weltkrieg rücksichtslos Uran abgebaut - für die sowjetische Atombombe. Der Stadtkern wurde dem Erdboden gleichgemacht; wegen drohender Bodensenkungen und um den Bergbau unter Tage nicht zu gefährden.

Hauer im Abbau bei der radiometrischen Erzsortierung, ca. 1960 Foto: Wismut GmbH
DDR-Uranabbau: Hauer bei der radiometrischen ErzsortierungBild: Wismut GmbH

Heute liegt das Zentrum von Johanngeorgenstadt auf einer Hochebene, 200 Meter über dem Tal. Hier war einst eine Bergarbeitersiedlung, erbaut von der seit den 1950er Jahren bis zur Wende mächtigen Wismut AG, dem einst viertgrößten Uranproduzenten der Welt. Mit Sonderrechten versehen war der Bergbaukonzern eine Art "Staat im Staate DDR", wie es in der aktuellen Unternehmenschronik heißt.

War der Altstadtabriss wirklich nötig? Die Frage spaltet die Johanngeorgenstädter bis heute. Frank Teller ist so etwas wie der Chronist der Stadt. Seine Familie lebt seit Jahrhunderten in Johanngeorgenstadt. "Einige frühere Wismut-Funktionäre behaupten heute noch, dass der Abriss der Altstadt in vollem Maße notwendig war und nach den Gesetzen der DDR ordnungsgemäß durchgeführt wurde. Die auf der Gegenseite meinen, es habe nie irgendwelche geologische Probleme gegeben, sondern der Abriss wäre eine politische Willkürmaßnahme gegen die armen Erzgebirgsbewohner gewesen", sagt er, ohne die Frage entscheiden zu wollen.

Historische Postkarte von Johanngeorgenstadt im Erzgebirge Foto: F. Strauss (DW-Archiv)
Einstiges Postkartenidyll: Johanngeorgenstadt vor dem Uranabbau-BoomBild: cc-sa-German-Wikipedia-Hejkal

Die Wismut AG siedelte die Bewohner der ehemaligen Altstadt um. Etwas außerhalb, hinter einem Bergrücken entstand für sie die "Neustadt". Wer hier heute triste Plattenbauten erwartet, wie sie später in der ganzen DDR gebaut wurden, liegt falsch. Der Neustadt ist heute noch anzusehen, dass sie als sozialistische Musterstadt konzipiert wurde. Die Häuser hatten früher Holzerker, Mansardenwohnungen, große Gärten und für damalige Verhältnisse fortschrittliche sanitäre Anlagen. Nach der Wende wurden viele Wohnungen aufwendig saniert. Aber ohne Erfolg: Die Abwanderung war nicht zu stoppen.

Stadt ohne Zukunft?

Schon während des Abrisses der Altstadt in den 1950er Jahren wurde klar, dass der Bergbau sich in Johanngeorgenstadt nicht mehr rentiert. Als Ausgleich wurden Textil- und Möbelfabriken angesiedelt, die aber bereits zu DDR-Zeiten defizitär arbeiteten. Nach der Wende gingen sie in den 1990er Jahren nacheinander in Konkurs. Der große Exodus begann, die Menschen zogen der Arbeit hinterher, nach Dresden, Nürnberg oder noch weiter weg. Nur die Alten blieben. Die Neustadt wird seitdem unaufhaltsam zurückgebaut, von außen nach innen, Häuserblock um Häuserblock verschwindet.

Ein kalter Wind bläst durch die Neustadt, bald wird der erste Schnee fallen. Die Stadtväter im 17. Jahrhundert wussten, warum sie Johanngeorgenstadt am Südhang bauten, die Neustadt am Nordhang ist Wind und Wetter ausgeliefert. "Sächsisches Sibirien" wird die Gegend auch genannt. Dass der Bergbau zurückkommt, glaubt hier niemand. In der Umgebung der Stadt werden zwar Seltene Erden vermutet, aber eine Erschließung dauert Jahrzehnte und würde auch nur wenigen Facharbeitern Arbeit geben. Auch Touristen bleiben aus - sie vermissen die Erzgebirgsromantik, die mit der Altstadt verschwunden ist.

Johanngeorgenstadt - eine Stadt stirbt

Zurück am Bahnhof: Anja Gysler erzählt, was sie so lange in Johanngeorgenstadt gehalten hat. "Ich habe hier meine Mutter, meine Familie, Freunde. Ich mag Johanngeorgenstadt, aber ich finde hier leider keinen Job und keine Perspektive." Eine Antwort, die man hier häufig hört. Die, die bleiben, mögen ihre geschundene Stadt. Und die, die gehen, gehen nicht gerne.