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Eingeschränkte Meinungsfreiheit in der Türkei

22. November 2007

Der Prozess um die Ermordung des Journalisten Dink gilt als Test für die türkische Justiz. Eine Rechtsanwältin kritisiert die Ermittlungen und beklagt ganz generell eine gegen Minderheiten gerichtete Stimmung im Land.

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Prozessauftakt im Mordfall Dink (re. Dinks Witwe, li. Rechtsanwälting Fethiye Cetin)Bild: AP

Im Januar 2007 wurde der Armenier Hrant Dink, Chefredakteur eines Verlags, von einem Nationalisten in der Türkei erschossen. Der Mordprozess ist für Menschenrechtler ein Test für die Unabhängigkeit der türkischen Justiz. Der Verlag ist nun vom PEN-Club ausgezeichnet worden, eine posthume Ehrung für Hrant Dink. Die Rechtsanwältin Fethiye Cetin, die sowohl den Verlag als auch die Familie Dink juristisch vertritt, war auf Einladung von Amnesty International in Berlin. Dort berichtete sie, wie der Prozess um die Ermordung von Hrant Dink in der Türkei geführt wird. Fethiye Cetin vertritt die Nebenklage vor Gericht in Istanbul. Die Anwältin machte darauf aufmerksam, dass seit einiger Zeit im Internet zum Mord an einzelnen Personen aufgerufen wird. Diese Hass-Sites enthalten meistens Namen, Adressen und Skizzen über Wohn- und Aufenthaltsorte der Bedrohten.

In der Atmosphäre eines aggressiven Nationalismus und einer Art Kriegsstimmung sehen die Minderheiten in der Türkei zur Zeit ihr Lebensrecht massiv bedroht, sagt die Rechtsanwältin Fethiye Cetin aus Istanbul. Sie setzt sich seit vielen Jahren für die Rechte von Minderheiten ein. So verwundert es nicht, dass auch ihr Name auf den Hass-Seiten der Ultranationalisten im Internet erscheint. Die Hetze trifft alle, die irgendwie anders sind als die Türken selbst: Egal ob Kurden, Armenier oder andere Christen, so die Juristin. Im internationalen Recht gebe es einen allgemein akzeptierten Grundsatz, dass die freie Meinungsäußerung beschränkt wird, wenn zu Hass und Gewalt aufgerufen wird. "Das ist ein Grundsatz. In der Türkei ist es genau umgekehrt. Menschen, die gegen Minderheiten, seien es Armenier, Kurden oder sonst jemanden zu Gewalt aufrufen, denen passiert nichts. Wenn aber Minderheiten für ihre Rechte eintreten, dann wird gegen diese Anklage erhoben", sagte Fethiye Cetin.

Umstrittener Paragraf 301

Es gebe sogar einen Paragrafen im türkischen Strafgesetzbuch, den Paragrafen 216, der

den Aufruf zu Hass und Feindschaft unter der Bevölkerung unter Strafe stellt, aber der finde keine Anwendung. Nach wie vor sehen sich Hunderte Journalisten, Künstler und Intellektuelle dem Vorwurf der Beleidigung des Türkentums, dem Paragrafen 301 des türkischen Strafgesetzbuchs ausgesetzt, beklagt Fethiye Cetin: "Ich bin der Meinung, dass dieser Paragraf aufgehoben werden müsste. Dieser Paragraf stellt den Staat und seine Organe unter einen speziellen Schutz. Das sind aber Institutionen, die sowieso die Macht haben, die stark sind, und er stellt sie unter Schutz gegenüber Individuen. Ich meine, in einem demokratischen Staat muss das Individuum geschützt werden – im Zweifelsfall gegen den Staat – aber nicht umgekehrt. Und daher meine ich, dass der Paragraf vollkommen abgeschafft werden sollte."

Proteste schon gegen Gesetzesmodifikation

Der Paragraf 301 wird allerdings wohl nicht so schnell aus dem Strafgesetzbuch verschwinden, auch wenn die Regierung Erdogan Änderungen plant. Bereits die Ankündigung, man werde den Paragrafen in einigen Punkten modifizieren, löste heftige Proteste der nationalistischen Opposition aus. Es werde sogar behauptet, die Regierung Erdogan wolle die Beleidigung des Türkentums künftig erlauben, berichtet die Juristin: "

Im letzten Absatz des Paragrafen steht der Satz: ‘Äußerungen, die als legitime Kritik gemeint sind, fallen nicht unter diesen Straftatbestand‘. Allerdings ist die Grenze zwischen einer Herabwürdigung und Kritik schwer zu definieren." Außerdem lasse der Begriff Türkentum einen breiten Interpretationsspielraum offen. "Was ist das Türkentum? Das bedeutet natürlich eine Ungleichbehandlung gegenüber anderen ethnischen Gruppen in der Türkei, wenn ausdrücklich die türkische ethnische Gruppe vor Beleidigung und Herabwürdigung geschützt wird, andere aber nicht", erläutert Fethiye Cetin.

Geheimdienst am Mordkomplott beteiligt?

Fethiye Cetin vertritt die Familie von Hrant Dink als Nebenklägerin im Prozess gegen 18 Mitglieder der Jugendorganisation der rechtsextremen Szene von Trabzon. Der 17-jährige Todesschütze und seine Komplizen wurden damals sehr schnell nach der Tat verhaftet. Das sei schon ein großer Unterschied zu früheren Prozessen, sagt die Anwältin: "Trotz dieser Festnahmen können wir nicht sagen, ob der Mord an Hrant Dink aufgeklärt wurde. Es gibt verschiedene, sehr wichtige Hinweise in Bezug auf den Mord und die Vorbereitung, die nicht aufgegriffen und untersucht wurden." Es ist ihr zufolge schwer vorstellbar, dass ein 17-jähriger, der vorher noch nie in Istanbul war, von sich aus mit einem Gewehr in der Hand nach Istanbul fährt, sich vor den Agos-Verlag stellt und Hrant Dink erschießt. "Es muss Verbindungsglieder gegeben haben, und diese Verbindungen muss man aufklären", sagt Fethiye Cetin.

Für Menschrechtsorganisationen wie Human Rights Watch ist das Verfahren ein Testfall für die Unabhängigkeit der türkischen Justiz. Denn in dem Prozess könnte auch geklärt werden, inwieweit türkische Sicherheitskreise in den Mord verwickelt sind. Rechtsanwältin Cetin berichtet sogar von verschwundenen Beweisen. Beispielsweise wurden die Bänder der Videoüberwachung beschlagnahmt, nun sind aber genau diese Bänder aus dem fraglichen Zeitraum nicht mehr auffindbar. Am zweiten Prozesstag kam heraus, dass der wichtigste Helfer und Kontaktmann der mutmaßlichen Mörder ein Mitarbeiter des Geheimdienstes ist. Damit sei klar, dass der Geheimdienst von dem Mordkomplott wusste, sagt die Rechtsanwältin.

Henriette Wrege