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Was vom Bären übrig blieb

Mirsad Čamdžić / Zoran Arbutina1. März 2013

Der Roma Nazif Mujic war kurze Zeit ein Filmstar - er bekam bei der Berlinale den Silbernen Bären als bester Darsteller. Danach kehrte er in sein Dorf in Bosnien zurück - in die Realität, die sich nicht verändert hat.

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Nazif Mujic und seine Frau Senada Alimanovic mit dem Silbernen Bären (Foto: Camdzic/DW)
Nazif Mujic und seine Frau Senada Alimanovic mit dem Silbernen BärenBild: DW/M. Camdzic

Es war ein besonderer Tag im Leben von Nazif Mujic, jener Samstag, der 16. Februar 2013. Der bosnische Roma, der sich bisher in seinem Leben immer hinten anstellen musste, wenn er überhaupt irgendwohin durfte, saß jetzt in der ersten Reihe des glamourösen Berlinale-Palastes im Theater am Potsdamer Platz. Für ihn wurde der rote Teppich ausgerollt, er trug einen Anzug und stand gemeinsam mit seiner Frau Senada im Rampenlicht der internationalen Presse - er gewann bei der diesjährigen Berlinale den Silbernen Bären als bester Darsteller.

Den Preis erhielt er für die Rolle im Film "An Episode In The Life Of An Iron Picker" von Danis Tanovic, der auch mit dem Großen Preis der Jury ausgezeichnet wurde. Nazif spielt in dem Film sich selbst - einen Roma, der seine Frau Senada und seine beiden kleinen Töchter mühsam ernährt, indem er auf Müllhalden Metall sammelt und es dem örtlichen Schrotthändler zum Verkauf anbietet.

Nun ein "Star"

Zwei Wochen später ist in seinem Haus im kleinen bosnisch-herzegowinischen Dorf Poljice der Briefträger Zikrija Mujagic ein steter Gast. Täglich bringt er Glückwunschtelegramme und Post aus aller Welt: Nazif ist nun ein Filmstar. Das sehen auch seine Nachbarn im Dorf so. Am Ortseingang steht jetzt eine Tafel mit einem Herz und der Schrift: "Hier lebt der beste Schauspieler aus Bosnien-Herzegowina".

Das Haus der Familije Mujić im Dorf Poljice (Foto:Camdzic/DW)
Es steht noch - das Haus der Familie Mujic im Dorf PoljiceBild: DW/M. Čamdžić

Auch sein Telefon klingelt ununterbrochen. Manche Menschen gratulieren, viele Journalisten wollen ein Interview. Nazif ist überrascht von solch einem Erfolg, meldet sich aber immer und lehnt niemanden ab. Kaum ein Gespräch dauert weniger als eine halbe Stunde - er will allen entgegenkommen. "Ich habe mir nie vorstellen können, dass so etwas passieren kann", sagt Nazif Mujic. Und dann erzählt er den Nachbarn, wie es in Berlin war: "Als ich den Preis bekam, war die ganze Zeit ein Leibwächter bei mir. Ich konnte nicht mal allein zur Toilette gehen, keine Zigarette alleine rauchen. Wo ich auch hinging, stand jemand bei mir."

"Wir haben uns gespielt"

Die Geschichte fängt Mitte 2011 an. Als die erneut schwangere Senada eine Fehlgeburt erleidet und droht, innerlich zu verbluten, wird sie nach stundenlanger Fahrt im Krankenhaus abgewiesen: keine Krankenversicherung und kein Geld, daher auch keine Behandlung. Der chirurgische Routineeingriff kostet umgerechnet etwa 490 Euro - für Nazif viel Geld. Verzweifelt mobilisiert Nazif Freunde und Familie, um das Leben seiner Frau retten zu können. Am Ende schafft er es, sie zum Arzt zu bringen - mit einer geborgten Krankenversichertenkarte.

Nazif Mujic mit Kindern (Foto: Camdzic/DW)
Manchmal spielen die Kinder mit dem BärenBild: DW/M. Camdzic

Als der Oscar-prämierte Regisseur Danis Tanovic ("No Man's Land", 2001) von der Geschichte hörte, sammelte er 17.000 Euro als Film-Budget und suchte mit einem kleinen Team und einer Digitalkamera Nazif und seine Frau auf. "Danis hat von unserer Geschichte gehört, kam, und wir waren uns sehr schnell einig. Alles ging sehr schnell", erzählt Nazif. "Wir konnten uns aber nicht vorstellen, dass der Film so einen Erfolg haben würde." Auch seine Frau Senada Alimanovic kann das Ganze kaum fassen: "Nie habe ich daran gedacht, in einem Film mitzuspielen. Wir haben es geschafft, weil wir uns selbst gespielt haben." Und dann fügt sie noch hinzu: "Niemand soll das erleben, was ich erlebt habe."

Den Anzug durfte er behalten

Senada und Nazif sollten ihr Leben und die schrecklichen Ereignisse so nachspielen, wie sie sich ereigneten - Tag für Tag. Es gab kein Drehbuch. Gedreht wurde in dem Dorf, in dem die Familie lebt, auch die Ärzte im Film sind "echt" - wenngleich es nicht die damals behandelnden Mediziner waren. Entstanden ist ein Film, der weder eine Fiktion ist, noch eine Dokumentation - und dennoch beides zugleich.

Vor einem Haus liegt Autoschrott (Mirsad Camdzic/DW)
Überall im Dorf findet man alte AutowracksBild: DW/M. Camdzic

Nun sind Nazif und seine Frau wieder zurück im Dorf, in ihrem baufälligen Haus. Der Silberne Bär steht nun im Regal, manchmal spielen die Kinder damit. Und der Anzug, den Nazif behalten durfte, ist inzwischen verstaubt. "Er wird heute wieder seine Jeans anziehen, die Axt nehmen und auf die Suche nach Metall gehen. Vielleicht findet er etwas - davon leben wir", sagt Senada, und Nazif pflichtet ihr bei: "Ich habe in meinen 42 Jahren immer gearbeitet. Ich war immer aktiv. Ich bin der Vertreter der Roma aus unserem Dorf. Ich habe keine Angst vor der Arbeit, ich hoffe, ich werde etwas finden."

Zurück in der Realität

In Poljice leben viele Roma, die Altmetall sammeln. Überall im Dorf liegen Autowracks, die ausgeschlachtet werden, alte Maschinen und Metallfässer. Die Dorfbewohner sind stolz auf "ihren Nazif", wie sie ihn nennen. Sie genießen es, dass ein Teil des Ruhmes auch auf sie abstrahlt, wissen aber, dass das nur vorübergehend ist: In ein paar Tagen werden uns wieder alle vergessen, glauben Nazifs Brüder Suljo und Kasim. Und sobald ein Gast im Dorf auftaucht, besonders wenn er ein Journalist ist, versammeln sich die Dorfbewohner um ihn und erzählen von ihren Problemen: Die Häuser sind undicht, es regnet überall durch. Keiner kümmert sich um das Dorf, die Infrastruktur ist marode, es gibt keine Kanalisation, die Straßen sind nicht asphaltiert. Und der ewige Mangel: Zu Essen gibt es nur wenig, es fehlen Medikamente, keiner ist hier krankenversichert.

Dorfbewohner von Poljice (Mirsad Camdzic/DW)
Die Dorfbewohner sind stolz auf "ihren Nazif"Bild: DW/M. Camdzic

Vor dem Haus von Nazif Mujic wird Brennholz ausgeladen, der Freund Esed Hodzic hat es für die Familie gebracht: "Ich habe ihn im Fernsehen gesehen, als er in Berlin war und den Preis bekam. Und ich wusste: wenn er vom roten Teppich zurück nach Poljice kommt, wird er kein Holz für den Ofen haben." Nazif verabschiedet sich von den Gästen, die in das kleine Dorf im Nordosten Bosniens gekommen sind, um ihn zu besuchen. Dann zieht er los und macht sich auf die Suche nach Autowracks, die er in Einzelteile zerlegt - mit bloßen Händen, einer Axt und einem Hammer. So wie in der Anfangssequenz des Filmes "Eine Episode im Leben des Metallsammlers".