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Diplomatische Eiszeit zwischen Türkei und Frankreich

23. Dezember 2011

Ein französisches Genozid-Gesetz belastet die Beziehungen zur Türkei. Ankara hat die wirtschaftlichen, politischen und militärischen Beziehungen ausgesetzt.

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Französische Türken gehen in Paris auf die Straße gegen neues Genozid-Gesetz. Foto: AP Photo/Michel Euler
Französische Türken gehen in Paris auf die StraßeBild: dapd

In Reaktion auf ein neues Völkermord-Gesetz hat Ankara am Donnerstag (23.12.2011) die diplomatischen Beziehungen zu Frankreich unterbrochen: Der Botschafter wurde aus Paris abgezogen, alle politischen, wirtschaftlichen und militärischen Kooperationsabkommen wurden ausgesetzt.

"In der Geschichte unseres Landes gibt es keinen Genozid", erklärte der Türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan vor Journalisten in Ankara nur wenige Stunden nach der Abstimmung im französischen Parlament. "Diese Politik ist rassistisch, sie schürt Hass gegen die Türkei und die Türken, und ihr Ziel ist es, die anstehenden Wahlen zu gewinnen.”

Erdogans Kritik zielte vor allem auf den französischen Staatspräsidenten Nicolas Sarkozy, dem im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen im kommenden Jahr ein harter Wahlkampf bevorsteht. Viele Beobachter analysieren das Gesetz als Versuch, die Stimmen von einer halben Million armenisch-stämmiger Wähler zu gewinnen.

Wenige Delegierte waren bei der Abstimmung in der Nationalversammlung anwesend. Foto: AP Photo/Michel Euler
Wenige Delegierte waren bei der Abstimmung anwesendBild: dapd

Nach dem neuen französischen Gesetz ist es ein Verbrechen, anzuzweifeln, dass die Ermordung hunderttausender Armenier in den Jahren 1915 bis 1917 durch das Heer des damaligen Osmanischen Reiches die Dimension eines Völkermords erreicht hat. Bei Missachtung kann eine Geldstrafe von 45.000 Euro und eine Gefängnisstrafe von einem Jahr verhängt werden.

Die Türkei beziffert die Opfer auf 150.000 bis 300.000, Armenien spricht dagegen von 1,5 Millionen Toten.

Der türkische Ministerpräsident sieht in dem französischen Gesetz einen Angriff auf die Freiheitsrechte. "Ich frage Sie: Gibt es in Frankreich noch das Recht auf freie Gedanken und auf freie Meinungsäußerung? Die Antwort ist nein. Frankreich hat das Ideal der Redefreiheit abgeschafft.” Allein Historiker, nicht Parlamentarier sollten die Geschichte schreiben, so Erdogan weiter.

Der Gesetzestext – den der französische Staatspräsident und die Mehrheit der Abgeordneten seiner konservativen Partei UMP stützen – muss noch im Senat bewilligt werden, bevor er rechtsverbindlich wird. Der Ausgang dieser Abstimmung ist noch ungewiss. Das Parlament tritt Ende Februar im Vorfeld der Präsentschaftswahlen zusammen.

Diplomatische Krise

Türkisches Heer zwang Armeniern in den Jahren 1915 bis 1917 zu Gewaltmärschen. Foto: AP Photo
1,5 Millionen Menschen fielen nach armenischen Angaben dem Genozid zum OpferBild: AP

Bereits im Jahr 2001 hatte Frankreich den Genozid formal anerkannt, allerdings ohne sein Leugnen unter Strafe zu stellen. Schon dieser Schritt löste eine diplomatische Krise aus.

Im Vorfeld der Abstimmung hatte die Türkei Frankreich gravierende politische und wirtschaftliche Konsequenzen angedroht für den Fall, dass die französische Nationalversammlung dem neuen Gesetzestext zustimmt. Doch die Warnung traf auf taube Ohren. Der türkischen Presse nach hatte sich Nicolas Sarkozy sogar geweigert, mit dem türkischen Staatspräsidenten Abdullah Gül zu telefonieren – obwohl dieser etliche Male persönlich versucht haben soll, seinen französischen Amtskollegen zu erreichen.

Inzwischen hat Ministerpräsident Erdogan eine erstes Sanktionspaket angekündigt und zudem vor weiteren Maßnahmen gewarnt, falls Frankreich das Gesetz umsetzt.

“Wir werden jetzt alle wirtschaftlichen, politischen und militärischen Treffen mit Frankreich absagen”, so Erdogan. “Alle politischen Beratungen werden ausgesetzt, alle militärischen Manöver abgesagt.“

Die acht angekündigten Maßnahmen brechen nicht alle diplomatischen und wirtschaftlichen Beziehungen ab, setzen jedoch nahezu alle bilateralen Kooperationsabkommen außer Kraft. Nicht nur geplante Besuche auf Regierungsebene, auch Austausch- und Stipendienprogramme sowie gemeinsame EU-Projekte wurden ausgesetzt. Die Erlaubnis für französische Militärflugzeuge, den türkischen Luftraum zu durchqueren und in der Türkei zu landen, wurde zurückgezogen. Somit muss jeder militärische Flug – beispielsweise zu Zielen in Afghanistan – einzeln genehmigt werden.

Auch ein Handelsforum, das für das Jahr 2012 geplant war, wurde abgesagt. Darüber hinaus kündigte Ankara an, dass französische Firmen von großen Energieprojekten und von Ausschreibungen im Bereich der Verteidigung ausgeschlossen würden.

Spannungen belasten Wirtschaftsbeziehungen

Für europäische Firmen ist die Türkei mit ihrer boomenden Wirtschaft und der geographischen Nähe zu den Wachstumsmärkten der Schwellenländer eine attraktive Region. Französische Unternehmen hinken bei Investitionen jedoch hinterher, auch aufgrund der politischen Spannungen zwischen den Regierungen.

Etwa 1.000 französische Unternehmen pflegen derzeit Handelskontakte mit der Türkei. Der Handel zwischen beiden Ländern macht einen Umsatz von 12 Milliarden Euro jährlich aus.

Im Vergleich zu Deutschland - als zweiter europäischer Wirtschaftsmacht - sind diese Zahlen relativ niedrig. Durch das türkische Wirtschaftswachstums haben die deutsch-türkischen Wirtschaftsbeziehungen in diesem Jahr Spitzenwerte erreicht: 4.700 deutsche Unternehmen haben Beteiligungen in der Türkei, und das Handelsvolumen beträgt 32 Milliarden Euro.

Konkurrenz zwischen Türkei und Frankreich

Türkische und französische Flagge
Diplomatische Spannungen wegen innenpolitischer Interessen Frankreichs?Bild: picture alliance/AFP Creative

Während die meisten Beobachter den Hauptgrund für die jüngsten Spannungen in der französischen Innenpolitik sehen, gibt es auch einige Gegenstimmen: Sie meinen, dass die Krisenherde in Libyen und Syrien beide Länder in Konkurrenz setzten, die Entwicklungen in der Nahostregion maßgeblich mitbestimmen zu wollen.

So setzt sich Sarkozy entschieden gegen eine türkische EU-Mitgliedschaft ein - ein wichtiges strategisches Ziel Ankaras, um mehr außenpolitisches Gewicht in der Region und in der Welt zu erlangen. Auch konzentriert sich der französische Präsident seit seinem Amtsantritt 2007 auf gute Beziehungen zu Zypern und Armenien, beide politische Gegner der Türkei.

In einem Interview des türkischen Nachrichtensenders NTV vertritt Cınar Ozen, Professor für Internationale Beziehungen der Universität von Ankara, die These, dass Frankreich die Situation der Armenier gerade für nationale Interessen ausnutzt: “Benutzt Frankreich jetzt Armenier, weil die die Zypernfrage als Argument gegen einen EU-Beitritt der Türkei immer weniger zieht?”

Kadri Gürsel, Außenpolitikexperte und Kommentator der liberalen Tageszeitung Milliyet, schließt sich dem weitgehend an. Er erinnert daran, dass Frankreich bereits im Jahr 2001 den Mord an den Armeniern per Gesetz als Völkermord qualifiziert hatte und es zahlreiche weitere Gesetzesinitiativen in dieser Richtung gab. Das neue Gesetz enthalte jedoch zum ersten Mal den expliziten Verweis auf die EU-Regelungen gegen Rassismus: “Der jüngste französische Gesetentwurf setzt das Problem erstmals in einen Kontext zu den Beziehungen zwischen der Türkei und der Europäischen Union,” schreibt Gürsel in seinem Leitartikel. “Der wichtigste Aspekt der Gesetzesinitiative ist dieser neue Kontext.”

Etwa zwei Dutzend Staaten klassifizieren den Mord an den Armeniern heute als Genozid, doch nur wenige Länder haben ein Gesetz, das auch sein Leugnen unter Strafe stellt. Auch in der Vergangenheit gab es europäische Länder, die die Anerkennung des Genozides zur Bedingung für einen türkischen EU-Beitritt gemacht haben, doch bisher haben diese Vorschläge nie die nötige Unterstützung gefunden. Meist haben sie allerdings eher die Entrüstung der türkischen Bevölkerung hochkochen lassen und nationalistische Gefühle in der öffentlichen Meinung gefüttert, als dass sie eine offene Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und eine Neu-Bewertung der Geschichte zur Folge gehabt hätten.

Professor Cınar Ozen glaubt, dass die Türkei zunächst eine klare und umfassende politische Linie gegenüber den Armeniern finden muss, um diese lange schwelende Frage zu lösen: „Wenn die Türkei nicht handelt, wird dieses Problem dauerhaft ein Werkzeug in den Händen ihrer Gegner sein“, sagte er auf NTV. „Die Türkei sollte weitere Reformen vollziehen, um die Meinungsfreiheit im Land auszuweiten. Gerade die armenischen Bürger sollten unterstützt werden, sich frei zu äußern. Ankara sollte endlich mit der armenischen Diaspora in direkten Dialog treten.“

Author: Ayhan Simsek

Editor: Michael Lawton / Johanna Schmeller