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Ekel ist menschlich

Michael Hartlep16. November 2012

Warum finden wir vergammeltes Fleisch mit Maden, Kot und bestimmte Tiere wie Spinnen oder Kakerlaken abstoßend? Und wieso schüttelt es uns beim Gedanken an manche Speisen, die anderswo als Delikatesse gelten?

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Kakerlaken (Foto: dpa)
Bild: picture alliance/dpa

Knut Fuhrmann steigt an einer Eisenleiter in ein Klärbecken. Auf der Oberfläche der dunklen Flüssigkeit treiben weißer Schaum und aufgequollene Damenbinden. Nur noch ein paar Zentimeter, dann schwappt das dunkle Wasser über Fuhrmanns Kopf zusammen und er kann mit seiner Arbeit beginnen. Knut Fuhrmann ist Klärwerkstaucher. Unter Wasser befreit er die Lüftungsschläuche der Anlage von Haarbüscheln, Kondomen und Binden, damit wieder genügend Luft ins Becken sprudelt und die Bakterien ihre Arbeit machen können.

Was für Fuhrmann normal ist, ruft bei anderen Würgereflexe hervor. So unangenehm das ist, es hat sein Gutes, sagt Harald Euler, der sich als Professor für Psychologie an der Universität Kassel lange mit dem Ekel beschäftigt hat: "Ekel ist intuitive Mikrobiologie, die uns von der Natur mitgegeben ist. Ekel verhindert, dass gefährliche Dinge aufgenommen werden." Der Ekel schützt uns also vor unsichtbaren Gefahren wie Giften und Krankheitserregern.

Eine Reaktion – verschiedene Ursachen

Das Prinzip gilt überall auf der Welt. Überall auf der Welt sind sich die Menschen einig: Leichen, offene Wunden, Körperprodukte wie Kot, Urin oder Eiter, vergammelte Lebensmittel und bestimmte Tiere wie Ratten, Würmer oder Maden sind abstoßend und widerlich. Und das bringen wir über alle Kulturen hinweg mit dem gleichen Gesicht zum Ausdruck: Die Nase wird gerümpft und die Oberlippe hochgezogen, während die Mundwinkel nach unten gehen.

Klärwerkstaucher Knut Fuhrmann (Foto: DW)
Wird selten um seinen Arbeitsplatz beneidet: Klärwerkstaucher Knut FuhrmannBild: DW

Aber schon bei Lebensmitteln scheiden sich die Geister. Die philippinische Spezialität Balut zum Beispiel. Um sie herzustellen werden Enteneier einige Wochen angebrütet, bis sich ein Fötus mit Schnabel und Federn gebildet hat. Das Ei wird gekocht und dann direkt aus der Schale mit einer Prise Salz gegessen. Warum finden wir eklig, was für andere Kulturen eine Delikatesse ist?

"Die kulturspeziellen Nahrungstabus werden durch Vorbild und Nachahmung vermittelt", sagt Euler. In der Gruppe lernen wir, etwas abstoßend zu finden. Es braucht nur jemand am Tisch die Nase zu rümpfen und wir wissen: Vorsicht, das könnte schädlich sein! Ekel funktioniert aber nicht nur als Warnung. "Das gemeinsame Essen und der gemeinsame Ekel stärken die Gruppe, dadurch grenzt sie sich gegen andere ab."

Ekel lernen

Doch ekeln will gelernt sein. Bis sie zwei Jahre alt sind, finden Kinder kaum etwas ekelhaft. Alles wird erst einmal in den Mund gesteckt, auch der braune Haufen auf dem Gehweg oder die schleimige Schnecke – wenn die Eltern nicht aufpassen. Erst später verinnerlichen Kinder die beiden magischen Gesetze des Ekels, die für Erwachsene selbstverständlich sind.

Evolutionspsychologe Harald Euler von der Universität Kassel (Foto: DW)
"Alles eine Frage der Assoziationen": Evolutionspsychologe Harald EulerBild: gemeinfrei

Das erste ist das Gesetz des Kontaktes: Alles, was mit einem ekelerregenden Gegenstand in Kontakt kommt, wird selbst eklig. Kaum jemand würde daher das Glas Milch trinken, das mit einer Fliegenklatsche umgerührt wurde. Schließlich könnte sie mit Krankheitserregern verschmutzt sein. Das zweite Gesetz ist das der Ähnlichkeit: Alles, was einem ekelhaften Objekt ähnlich sieht, finden wir automatisch ekelhaft. Deshalb würde man nie ohne weiteres Suppe aus einer Bettpfanne essen, selbst wenn sie fabrikneu ist. "Alles eine Frage der Assoziationen", sagt Ekelforscher Euler. 

Und die kann man auch ändern. Man muss sich dem Ekeligen nur oft genug aussetzen, dann verschwindet das unangenehme Gefühl. Desensibilisierung nennt Euler das. Klärwerkstaucher Knut Fuhrmann kann das bestätigen. In Faultürme voll mit stinkender zäher Flüssigkeit zu steigen, macht ihm nichts mehr aus: "Es geht um innere Überwindung. Ich sehe das nur noch als Schlamm, mehr ist es nicht."