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Ekstase an der Oder

15. Juni 2006

Obwohl Deutsche und Polen Nachbarn sind, sind sie sich doch meist Fremde. An einem Ort ist das aber ganz anders. Selbst beim Spiel Deutschland gegen Polen.

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Deutscher Fußball-Fan in Frankfurt an der Oder zeigt, welche Fahne ihm näher istBild: DW/Oliver Samson
WM 2006 - Fans - Polen
Die Brücke nach Polen in Frankfurt an der OderBild: DW/Oliver Samson

"Das hat sich wohl ein bisschen verselbständigt", sagt Sven Lessar vom Asta der Viadrina Universität in Frankfurt an der Oder. "Eigentlich sollte das ja nur eine Veranstaltung für Studenten sein." Jetzt ist aber das Fernsehen da, zwei Sender, ein Übertragungswagen. Dazu mindestens drei Tageszeitungen und drei Radiostationen. Vor allem aber ungefähr tausend Studenten. Sie feierten das Spiel, ihre Länder – und vor allem sich selbst.

Die Studenten der Viadrina wissen, dass sie Teil eines besondern Projekts sind. Die Europa-Universität hat sich seit ihrer Widergründung Anfang der 1990er Jahre den deutsch-polnischen Kontakten verschrieben. Hier, in Frankfurt, der Stadt, die von der Oder in zwei Hälften, in zwei Staaten geteilt wird, in der die oft schwierige Nachbarschaft intensiver gelebt wird, als irgendwo sonst.

International

Von den 5000 Studenten kommen 40 Prozent aus dem Ausland, aus 75 Nationen. Ein Drittel der Studenten kommt aus Polen. Das vermaledeite Sprachproblem gibt es hier nicht: Die Polen sprechen hier selbstverständlich deutsch, die Deutschen polnisch, viele haben zwei Muttersprachen. Wenn Miroslav Klose und Lukas Podolski Studenten statt Kicker wären, hier würden sie herpassen.

An diesem Abend im Audimax der Viadrina gilt es allerdings Farbe zu bekennen: Schwarz-Rot-Gold oder Rot-Weiß. 650 passen normalerweise in den größten Hörsaal, bestimmt 1000 sind zur Verzweiflung des Hausmeisters da. Dazu kommen nochmals mehrere Hundert vor den Bildschirmen im Foyer. Man muss gerade in diesen Tagen vorsichtig mit großen Worten der Begeisterung sein, aber die Stimmung ist sensationell. Deutsche und polnische Farben halten sich die Waage. Schon vor dem Spiel wird getrommelt, getrötet, und gebrüllt. Schon bei der Mannschaftaufstellung bebt der Hörsaal von einer Lautstärke, wie sie selbst ein alt gedienter Sportreporter kaum je im Stadion gehört hat. Polen und Deutsche singen mit Inbrunst ihre Hymnen. Das problematische, historisch so sehr belastete Verhältnis mag das Verhältnis zwischen Polen und Deutschen überall belasten, hier in diesem Hörsaal, bei der zukünftigen deutsch-polnischen Elite offensichtlich nicht. So, genau so mögen es sich die Gründer der Viadrina gewünscht haben.

Gefährliche Viertel

Der Spielverlauf mit dem Klimax in der Nachspielzeit eignet sich an diesem denkwürdigen Abend hervorragend, aus allen das letzte an Begeisterung und Emotionen herauszukitzeln. "Wahnsinn, diese Stimmung. Deswegen lieben wir es ja auch, hier zu studieren", sagt ein stimmlich schon schwer angeschlagener Student nach dem Schlusspfiff, draußen, in der feiernden Menge vor dem Gebäude des Audimax.

Die Fernsehteams sind da schon weg. Sie haben Bilder von leidenschaftlich und zusammen feiernden deutschen und polnischen Fans gedreht, die es sonst ganz sicher nirgends zu sehen gab an diesem Abend – und gleichzeitig zwangsläufig einen Werbeclip für das Projekt Viadrina gedreht. Für die Studenten stellt sich nun die Frage, wo weitergefeiert werden soll. Vielleicht auf der Brücke, in Polen? Nein, im Deutschland-Trikot lieber nicht, sagt ein Student und lacht. Der Ärger, den er zuhause mit seiner polnischen Freundin bekommt, reiche ihm schon.

Dann wird er aber kurz ernst: "Wenn Polen gewonnen hätte, wäre es aber in einem Polen-Trikot richtig gefährlich in einigen Viertel hier." Willkommen in der deutsch-polnischen Realität - außerhalb der Viadrina.