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Literatur

Elias Canetti: "Die Blendung"

Aygül Cizmecioglu spe
6. Oktober 2018

In diesem Roman treibt die grenzenlose Liebe zu Büchern einen Mann in den Wahnsinn und schließlich in den Tod. Elias Canetti wurde für seinen einzigen Roman mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet.

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Schriftsteller Elias Canetti
Bild: picture-alliance/dpa/Votava

Eine Höhle aus 25.000 Büchern. Meterhohe Regale säumen die Wände, kein Fenster, kein Tageslicht stört die dicken Wälzer. Das ist das Reich von Peter Kien. Der Bibliomane und "größte Sinologe seiner Zeit" lebt in seiner riesigen Bibliothek - der Welt entfremdet, verschroben und einsam.

"Nirgends ein Tisch, ein Schrank, ein Ofen, der das bunte Einerlei der Regale unterbrochen hätte. Den Besitz einer reichhaltigen, geordneten und nach allen Seiten hin abgeschlossenen Bibliothek, in der ihn kein überflüssiges Möbelstück, kein überflüssiger Mensch von ernsten Gedanken ablenkte."

"Die Blendung" von Elias Canetti

Höhle aus Büchern 

So sehr er seine Bücher liebt, so sehr verabscheut er andere Menschen. Noch größer als sein Kinderhass ist seine Abneigung gegen Frauen. Er hält sie für menschenähnlich aufgemotzte Tiere. Daher grenzt es fast an ein Wunder, dass er seine Haushälterin Therese ehelicht. Die gibt vor, sich gewissenhaft um Kiens Bücher zu kümmern. In Wirklichkeit ist sie auf sein Vermögen aus und will die wertvollen Bücher schnöde zu Geld machen. Gleich in der Hochzeitsnacht beginnt ein erbarmungsloser Kampf um die Vorherrschaft in der Wohnung. Aus dieser Paarung wird eine der grauenhaftesten Ehen der Weltliteratur. 

Elias Canetti schrieb eine grotesk zugespitzte Parabel über die Macht des Kleinbürgers und die Ohnmacht des Intellektuellen. Ein fast 600 Seiten dickes Romanmonstrum, das ihm 1981, über 40 Jahre nach der Erstveröffentlichung, den Nobelpreis für Literatur einbrachte. In diesem Buch kämpft jeder gegen jeden. Und am Ende treibt der gegenseitige Hass Kien in den Wahnsinn. 

In den Wahnsinn getrieben

"Plötzlich, er weiß nicht, wie ihm geschieht, verwandeln sich die Menschen in Bücher. Er schreit laut auf und stürzt besinnungslos in die Richtung des Feuers. Er rennt, keucht, beschimpft sich, springt hinein und sucht und wird von fliehenden Leibern gefressen. Die alte Angst ergreift ihn, Gottes Stimme befreit ihn, er entkommt und betrachtet vom gleichen Fleck das gleiche Schauspiel. Vier Mal lässt er sich zum Narren halten. Die Geschwindigkeiten der Geschehnisse nimmt von mal zu mal zu. Er weiß, dass er in Schweiß gebadet ist."

Deutschland Jacob-und-Wilhelm-Grimm-Zentrum in Berlin
Erst der Anblick seiner 25.000 Bücher gibt Peter Kien das Gefühl von SicherheitBild: picture-alliance/dpa/R. Jensen

Es scheint da nur konsequent, dass dieser weltfremde Büchernarr zum Schluss samt seiner Bibliothek in Flammen aufgeht. Denn die einzige Liebe in diesem Roman, so scheint es, ist die zu den Büchern. Alle Menschen sind geblendet - von Geld, von materieller Sicherheit einerseits. Und von Realitätsangst und Bibliomanie andererseits. 

Elias Canetti verfasste seinen einzigen Roman mit gerade mal Anfang Zwanzig. Ein Schlüsselerlebnis, so erzählte er Jahre später, war für ihn der Brand des Wiener Justizpalasts im Jahr 1927. Was sich ihm eingeprägt hatte, war nicht so sehr der Tod von unzähligen Menschen, sondern der Anblick eines einzelnen Beamten, der kopflos vor den Flammen umherirrte und jammerte: "Die schönen Akten! Die schönen Akten!"

 

Elias Canetti: Die Blendung (1935), Fischer Taschenbuch Verlag

Elias Canetti, 1905 in Rousse (Bulgarien) geboren, war der älteste Sohn einer sephardisch-jüdischen Familie. Er wuchs in Manchester, Zürich, Frankfurt und Wien auf. 1929 promovierte er in Wien im Fach Naturwissenschaften. Dort schrieb er "Die Blendung" und begann schon als Zwanzigjähriger, sich mit dem Phänomen der "Masse" zu beschäftigen. 1938 musste er Österreich verlassen und emigrierte mit seiner Frau Veza nach London, wo sein soziologisches Hauptwerk "Masse und Macht" entstand. Seit den späten Sechzigerjahren lebte er in London und Zürich, wo er 1994 starb. Elias Canetti erhielt 1981 den Nobelpreis für Literatur.