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Engelszungen statt Berliner Schnauze

Mathias Böhlinger13. Oktober 2006

Nach der Entscheidung des Berliner Bürgermeisters über die Fortsetzung von Rot-Rot sind die Grünen angriffslustig. Doch nicht nur ihnen fehlt für heftige Verbalattacken die Munition.

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Rache für Rot-Rot! Das, vermutet zumindest die BILD-Zeitung, sei der Grund für CDU und Grüne, in den bürgerlichen Bezirken Charlottenburg Wilmersdorf eine Koalition zu bilden. Die Berliner SPD hat sich auf Landesebene für eine Koalition mit der Linkspartei entschieden statt mit den Grünen. Und die schmeißen die Genossen dann gleich reihenweise aus den Bezirksregierungen. Deshalb stehen auch in Schöneberg-Tempelhof die Zeichen auf Schwarz Grün. Und in Kreuzberg-Friedrichshain, wo mit der acht-Prozent-Partei CDU nix zu holen ist, haben die grünen Racheengel offenbar eine ganz besonders perfide Taktik ausgedacht. Über die Flure schallt die Nachricht, sie wollten dort mit der Linkspartei koalieren. Und die SPD mit ihrem eigenen Koalitionspartner ausbooten. Nett ist das alles jedenfalls nicht.

Rücksicht ist nicht gefragt

Überhaupt stehen die Zeichen der Zeit momentan nicht unbedingt auf Großherzigkeit und Edelmut. Nordkorea zündet eine Atombombe und erntet Sanktionsdrohungen. Beim Länderspiel gegen Georgien tritt Lukas Podolski einem Georgier gegen das Schienbein und bekommt die rote Karte. Deutsche Hooligans schlagen slowakischen Polizisten die Zähne aus und die Bahn kündigt Preiserhöhungen für alle Strecken an. Nein, Rücksicht hat gerade keine Konjunktur.

"Schwer bescheuert"

Da klingt es fast schon vornehm, wenn die Intendantin der Deutschen Oper jetzt sagt, dass sie dem einen oder anderen ihrer Kritiker "eigentlich einen etwas höheren IQ zugetraut hätte.“ Ein bisschen, wie wenn ein Mädchen aus gutem Haus versucht, mit den Straßenkindern zu fluchen. Wir erinnern uns. Christoph Schlingensief fand in seiner etwas in die Jahre gekommenen Jugendsprache, dass Kirsten Harms "schwer bescheuert“ gehandelt habe, weil die beschlossen hat, die Mozartoper "Idomeneo" abzusetzen, weil der Regisseur auf der Bühne Religionsführer enthaupten lässt. Aus dem fernen Hessen verkündete Inennenminister Bouffier, die Entscheidung der Intendantin sei "feige und blamabel." Und sein Bundeskollege Schäuble nannte den Vorgang "lächerlich". Er werde die Intendantin anrufen und fragen, "ob sie verrückt geworden ist", gab er zu Protokoll. Ob er das getan hat, wissen wir nicht. Und ebenso wenig natürlich was sie geantwortet hat.

Zahme Kritik

Dass die beiden einander am Telefon wilde Flüche entgegengeschleudert haben, scheint aber eher unwahrscheinlich. Genau genommen ist all die "scharfe Kritik", die da geäußert wurde, doch ziemlich zahm. Wo sind die Zeiten, als sich Politiker noch so ausdrücken konnten, dass sie jederzeit einen Kopfstoß von Zidane verdient hätten? Als Joschka Fischer den Bundestagsvizepräsidenten ein "Arschloch" und den Budestag eine "Alkoholikerversammlung" nannte, die "ganz ordinär nach Schnaps stinkt"? Als Franz-Josef Strauß von Journalisten als "Ratten und Schmeißfliegen" sprach, oder Herbert Wehner den Namen des Abgeordneten Wohlrabe in "Übelkrähe" umdichtete.

"Berliner Schnauze"

Alte Geschichten? Uralt. Auch der Umzug von Bonn nach Berlin hat den unaufhaltsamen Trend zur Liebenswürdigkeit nicht aufhalten können. Dabei galt doch die Hauptstadt immer als Schutzgebiet der schonungslosen, zielgenauen Stichelei. "Berliner Schnauze heißt anderswo Beleidigung" diktierte Hans Ottomeyer, der Direktor des Deutschen Historischen Museums, gerade einem BILD-Reporter. Reine Nostalgie. Gerade einmal "verschaukelt" fühlte sich die Grünen-Vorsitzende vom Berliner Bürgermeister Wowereit, als dieser Rot-Grün eine Absage erteilte. Verschaukelt? Na, Frau Eichstädt-Bohlig, welches Wort hätte wohl Übervater Fischer an dieser Stelle verwendet?

Nein, nicht mal in Berlin wird mehr richtig geschimpft. Stattdessen wird der versteckte Affront in Koalitionsvereinbarungen auf Bezirksebene versteckt. Und wenn wir nicht hin- und wieder BILD lesen würden, hätten wir das Ausmaß der Kränkung doch glatt übersehen. Aber bei aller neuen Distinguiertheit: Treten, ohne vorher geschimpft zu haben, das entspricht auch nicht der Etikette.