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Entsetzen, Wut und Hoffnung

Darius Cierpialkowski25. April 2006

Für Jugendliche ist Tschernobyl Vergangenheit. Für diejenigen aber, die bis heute rund um den Katastrophenreaktor leben und arbeiten, ist es ein Fluch, dem sie kaum entkommen können.

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Drei Tage bereiste ich die Sperrzone rund um das Atomkraftwerk Tschernobyl, direkt an der ukrainisch-weißrussischen Grenze. Es waren drei Tage voller Eindrücke und Emotionen, drei Tage zwischen Entsetzen, Wut und Hoffnung.

Die Sperrzone beginnt rund 30 Kilometer vor dem Atomkraftwerk. Je näher man an das Epizentrum der Katastrophe vom 26.April 1986 heranfährt, desto größer ist die gemessene Strahlung. In einem Umkreis, rund fünf Kilometer um das AKW herum ist heute, 20 Jahre nach der wohl größten atomaren Katastrophe, die Strahlung immer noch stellenweise 20 bis 50 mal höher als die erlaubte Dosis.

Wilde Pferde im Sperrkreis

Auf dem Weg zum AKW begegne ich wilden Pferden. Wissenschaftler haben sie hier angesiedelt, um die Auswirkungen der Radioaktivität auf Tiere zu erforschen. Die ersten 30 Pferde wurden vor wenigen Jahren in der Sperrzone ausgesetzt, heute sind es schon 100. Doch die erfolgreiche Vermehrung sagt nichts über den Gesundheitszustand der Pferde aus. Da stehen die Wissenschaftler erst am Anfang.

Über die Gesundheit der Menschen, die innerhalb der Sperrzone leben und arbeiten, wissen die Experten mehr. Die meisten leiden unter Folgeschäden der Katastrophe. Ihre Gesichter sind oft blass, bei vielen treten rote Äderchen hervor. Lungenschäden und Krebserkrankungen sind keine Seltenheit. Vor 20 Jahren, direkt nach der Explosion im AKW-Reaktor mussten Tausende Menschen ein Gebiet im Umkreis von 30 Kilometern rund um den Unglücksreaktor Fluchtartig verlassen. Aber nach einigen Jahren kamen die ersten wieder zurück. Ihre Beweggründe sind sehr unterschiedlich. Oleg, ein Mann im mittleren Alter sagte mir, er habe drei Jahre im Osten der Ukraine verbracht. Aber als die Menschen erfuhren, dass er aus Tschernobyl kam, wollte keiner mehr mit ihm zu tun haben. Die Menschen hatten panische Angst vor der Strahlung. Oleg kehrte also in die verstrahlte Sperrzone zurück.

Geduldete Rückkehrer

Mittlerweile dulden die Polizisten die Rückkehrer und lassen sie in Ruhe. Einige Hundert leben wieder in verlassen Dörfern rund um das AKW. Viele von ihnen haben eine Kuh, Hühner oder ein Schwein. Einige fischen sogar in dem angeblich strahlenfreien Flüsschen und ernten Äpfel oder Birnen. Kaum einer ließ sich in den vergangenen Jahren vertreiben. Wenn Polizisten mal wieder die Fenster in ihren Häusern einschlugen, setzten die Bauern sie wieder ein. Doch das ist Vergangenheit. Unter den Leuten in der Zone herrscht heute eine Art Solidarität. Denn jeder, der hier lebt, kriegt seine Dosis Strahlen ab. Die Radioaktivität unterscheidet nicht zwischen Polizist, Bauer oder Atomarbeiter. Im Atomkraftwerk arbeiten übrigens immer noch fast 4000 Arbeiter und Angestellte. Sie schützen und verwalten das stillgelegte AKW mit dem schützenden Sarkophag aus Stahl und Beton über dem explodierten Reaktor. Nach wie vor befinden sich knapp 200 Tonnen radioaktiver Stoffe unter dieser Schützhülle. Die erhöhte Strahlung nehmen die Atomarbeiter zähneknirschend in Kauf. Was sie nach Tschernobyl lockt ist das dreifache Gehalt. Auf Nachfrage bekomme ich zu hören, hier am AKW ist alles sauber.

Vergrabene Hubschrauber

Nur wenige Hundert Meter vom Atomkraftwerk: ein riesiger Schrottplatz. Hunderte Lastwagen, Feuerwehrautos, Krankenwagen und Hubschrauber. Sie alle waren vor 20 Jahren am explodierten Reaktor im Einsatz. Heute ist es hochradioaktiv verseuchter Metallschrott. Nur wenige Teile können eingeschmolzen werden, der Rest wird in der Erde vergraben. Hilflose Maßnahmen gegen die enorm hohe Strahlung, die selbst in einigen Hundert Jahren kaum abnehmen wird.

Ganz nebenbei entwickelt sich in der Sperrzone ein bizarrer Geschäftszweig. Immer mehr Menschen wollen aus nächster Nähe sehen, was in Tschernobyl vor 20 Jahren geschehen ist. Touristengruppen reisen für einige Stunden an, Extrem-Tourismus wird in der Geisterstadt Pripjet angeboten. Und der Handel mit verstrahltem Metall soll ebenfalls florieren. Wie der gefährliche Schrott über die bewachten Kontrollpunkte die Sperrzone verlässt, wollen die Polizisten mir aber nicht verraten.

Nach drei Tagen ist Tschernobyl für mich greifbarer geworden. Es ist kein Begriff aus der Vergangenheit. Tausende Menschen leiden bis heute unter den Folgen der Katastrophe, ganze Landstriche sind verseucht. Tschernobyl existiert und ist Gegenwart, auch wenn der Name für viele von uns zum bloßen Symbol geworden ist.