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Erdogan und die "Islamischen Calvinisten"

Daniel Heinrich29. Oktober 2015

Niederschlagung der Gezi-Proteste, Pressezensur, Aushöhlung der Verfassung. Trotz allem erfreuen sich Recep Erdogan und seine AKP vor den Wahlen großer Beliebtheit in der Türkei. Daniel Heinrich berichtet aus Kayseri.

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Türkei Stadtbild Panorama in Kayseri (Quelle: DW/D. Heinrich)
Bild: DW/D. Heinrich

"Der Respekt vor Gott und vor der Arbeit, das ist das Wichtigste im Leben." Orhan Kara lässt keinen Zweifel an seiner Weltanschauung aufkommen. Der 35-Jährige betreibt einen kleinen Kebab-Laden in der Altstadt von Kayseri, der Hauptstadt der gleichnamigen Region in Zentralanatolien.

"Islamische Calvinisten" nennt man die Menschen hier. Seit einigen Jahren befindet sich die Region mit ihren knapp 1.8 Millionen Einwohnern in wirtschaftlichem Aufschwung, das Industrieviertel am Rande der Metropole gleicht einer Kleinstadt. International erfolgreiche Firmen wie "Istikbal", eine türkische Variante von Ikea, und "Boyteks", ein Textilunternehmen, stammen aus der Region.

"Ora et labora", also "Bete und arbeite", so könnte man die Lebenseinstellung hier wohl beschreiben: Die Straßen sind sauber, die Frauen tragen Kopftuch, die Männer Gebetsketten und um sieben Uhr abends werden die Bürgersteige hochgeklappt.

Türkei Orhan Kara mittig in seinem Kebab-Imbiss in Kayseri (Quelle: DW/D. Heinrich)
In Kayseri zweifelt kaum jemand: Nur Erdogan ist der richtige Mann für die TürkeiBild: DW/D. Heinrich

Die konservative Grundhaltung schlägt sich nieder in den Wahlergebnissen. Knapp 60 Prozent machten bei den Parlamentswahlen im Juni ihr Kreuz bei der religiös-konservativen AKP. Nach aktuellen Umfragen ist bei den Wahlen am kommenden Sonntag (1.11.2015) mit einem ähnlichen Ergebnis zu rechnen. Die Tatsache, dass von insgesamt neun Abgeordneten, die aus der Region Kayseri ins Parlament nach Ankara geschickt werden, "nur" fünf von der AKP dabei sein werden, gilt da schon fast als Schlappe.

Druck als Mittel der Politik

Auch die religiös-nationalistische MHP stellt drei Abgeordnete. Damit ist Cetin Arik von der CHP derzeit der einzige Abgeordnete aus Kayseri, der nicht aus dem religiös-nationalistischen Milieu stammt. Ariks CHP ist die Partei des Staatsgründers Kemal Attatürk - eigentlich die größte Oppositionspartei im Land. Bei den Wahlen am Sonntag strebt sie 30 Prozent der Stimmen an. In Kayseri sei die Lage aber relativ aussichtslos, gibt Cetin Arik offen zu: "Eines der größten Probleme ist, dass wir keine Wahlwerbung schalten dürfen. Wir bekommen auch keine Auftritte im TV", sagt er im Gespräch mit der Deutschen Welle ernüchtert. Die AKP übe einfach zu viel Druck auf die Sendeanstalten aus.

Dass von Seiten des Staatsapparates nicht nur leere Drohungen ausgesprochen werden, bekam kürzlich ausgerechnet die lokale Wirtschaftsprominenz zu spüren. Die Boynak-Holding, zu der auch das Unternehmen "Istikbal" gehört, kommt in Kayseri für die Hälfte der Einnahmen aus den Gewerbesteuern auf. Wirtschaftsfaktor hin oder her: Als Gerüchte hochkochten, die Holding sei an einem angeblichen Coup gegen Staatspräsident Erdogan beteiligt, landeten einige ihrer höchsten Vertreter kurzerhand hinter Gittern.

Türkei Cetin Arik mit Mitarbeitern in Kayseri (Quelle: DW/D. Heinrich)
Oppositionspolitiker Cetin Arik darf keine Wahlwerbung schaltenBild: DW/D. Heinrich

Verschwörungstheorien an der Tagesordnung

Gerüchte um Coups haben in der Türkei Hochkonjunktur. Für Gareth Jenkins, Türkei-Experte und Fellow des "Silk-Road-Programms" der Welttourismusorganisation UNWTO, sind sie dauerhafter Bestandteil des politischen Diskurses. Es gebe einen unbeirrbaren Glauben an unglaubliche Verschwörungstheorien, erklärt er der DW: "Es gibt eine ganze Reihe von angeblichen Umsturzversuchen, die darauf abzielen, Tayyip Erdogan und die AKP zu schwächen und den, ansonsten unaufhaltsamen, Aufstieg der Türkei zu einer Weltmacht zu verhindern."

Kayseri bildet da keine Ausnahme. Auch Orhan Kara, der Betreiber des Kebab-Lokals, sieht die AKP, sieht den türkischen Präsidenten Tayyip Erdogan bedroht: Nach den Anschlägen von Ankara Mitte Oktober, bei denen 102 Menschen starben, sind die Menschen in Kayseri überzeugt, dass eine alleinige AKP-Regierung dringend nötig ist.

Türkei Wahlplakat AKP Davutoglu in Kayseri
Omnipräsent: Die AKP und ihre KandidatenBild: DW/D. Heinrich

Experte Jenkins erkennt gegenüber der DW darin ein wiederkehrendes Muster beim Gang an die Wahlurnen: "Diejenigen, die die AKP sowieso schon unterstützen, sehen in den Anschlägen von Ankara nur noch einen weiteren Beleg dafür, dass es interne Kräfte gibt, die versuchen der AKP und der Türkei insgesamt zu schaden." Das einzige Mittel dagegen sei aus Sicht der AKP-Wähler die Festigung der Stellung der AKP.

Der Terrorcocktail von Ankara

Bei der Stärkung dieser Tendenzen mischt die politische Führung der AKP gerne mit und beteiligt sich fleißig an der Verbreitung von Verschwörungstheorien. Bezüglich der Attentäter kämen eine ganze Reihe von Gruppierungen in Frage, so der türkische Ministerpräsident, Ahmet Davutoglu, kurz nach den Anschlägen: Dazu gehörten der sogenannte Islamische Staat, die PKK, oder auch linksextreme Gruppierungen. Ganz schön komplex, ganz schön breit gefächert. Dankenswerterweise hatte Dauvtoglu dafür einen passenden Titel im Gepäck: Cocktailterrorismus.

"Cocktailterrorismus", das verfängt wohl auch aufgrund seiner Einfachheit. Auch in Kayseri, auch bei Orhan Kara. Fast erleichtert wirkt er allerdings, dass es dieser Art der Differenzierung in der Parteienlandschaft nicht bedarf. Für ihn ist ganz klar, wer in der Türkei auch in Zukunft die Hosen anhaben wird. "Erdogan ist unser Boss", sagt er begeistert und scheint in seiner Euphorie vollkommen vergessen zu haben, dass der Genannte zum einen am Sonntag gar nicht zur Wahl steht und zum anderen durch seine mehr oder weniger offene Unterstützung der AKP die Verfassung des Landes außer Kraft setzt. Als Staatsoberhaupt ist er qua Gesetz eigentlich zur Neutralität verpflichtet. Allein: Der AKP-Begeisterung in Kayseri wird das jedoch auch in Zukunft wohl keinen Abbruch tun.

Türkei Ankara Selbstmordanschlag Tatort
Der Terroranschlag von Ankara Mitte Oktober hat die Stellung der AKP gestärktBild: Getty Images/AFP/A. Altan