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Solidarisch und gewinnorientiert

Rayna Breuer3. August 2012

Einer für alle, alle für einen: so heißt das Prinzip der Genossenschaften. Gerade in Krisenzeiten erlebt die Idee des gemeinschaftlichen Handelns einen Boom. Von der Vereinbarkeit von Solidarität und Profit.

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Symbolbild Geossenschaften (Foto: Fotolia/pilatoida)
Bild: Fotolia/pilatoida

Ein großes, lichtdurchflutetes Gebäude, im Eingangsbereich moderne Werbevitrinen, Bildschirme leuchten: Sehen so etwa Genossenschaften aus? Zugegeben – das Modell des gemeinschaftlichen Handelns hat einen etwas angestaubten ja sogar eingerosteten Klang. "Nein, sexy ist das nicht", sagt Thomas Nonn und meint damit die Unternehmensstruktur des Kölner Handelskonzerns REWE. "Das liegt vielleicht daran, dass altertümliche Vorstellungen mit dem Begriff verbunden sind. Das Bild der Genossenschaft ist noch nicht ganz klar", so der  REWE-"Genossenschaftsminister" – eine offizielle Bezeichnung ist das nicht. Sie habe sich nur so mit der Zeit etabliert.

Die Idee vom "alternativen" Wirtschaften ist in der Tat alt, ganze 160 Jahre. Aber gerade vor dem Hintergrund der Finanz- und Schuldenkrise gewinnt dieses Modell zunehmend an Schwung: Ein Beweis dafür, dass sich Solidarität und Gewinn in der freien Marktwirtschaft nicht unbedingt ausschließen müssen.

In ganz Deutschland gibt es etwa 7600 Genossenschaften mit fast 21 Millionen Mitgliedern und es werden jährlich mehr. Allein im vergangenen Jahr gab es 270 Neugründungen. Genossenschaften als Zukunftsmodell – davon sind auch die Vereinten Nationen überzeugt und haben 2012 zum Internationalen Jahr der Genossenschaften erklärt. Wohl auch, um das verstaubte Image aufzupolieren.

Die Netzwerk-Pioniere

Die Geburtsstunde der Genossenschaften lässt sich nicht genau festmachen. Bereits im Mittelalter entstanden die ersten Zusammenschlüsse. In Deutschland haben Hermann Schultze-Delitzsch und Friedrich Wilhelm Raiffeisen unabhängig voneinander die Genossenschaftsbewegung ins Leben gerufen. Ihre Idee: Landwirte und Handwerker können sich beim Einkauf, bei der Kreditbeschaffung oder etwa beim Verkauf der eigenen Waren und Dienstleistungen zusammenschließen, um so von den Vorzügen der Gemeinschaft zu profitieren.

Hermann Schulze-Delitzsch (Portrait - Unbez. Stahlstich nach Photographie, um 1880)
Hermann Schulze-DelitzschBild: picture-alliance/akg-images

"Mehrere kleine Kräfte vereint bilden eine große", so soll es der Gründervater Schulze-Delitzsch gesagt haben. An Aktualität hat diese Aussage bis heute nicht verloren: "Sie können sich mit einem Lebensmittelgeschäft in der Größe am Markt nicht selbst bedienen. Sie können nicht einfach so losfahren und ihre Ware mal so zusammensuchen", sagt Erich Stockhausen. Er ist REWE-Genossenschaftsmitglied seit 25 Jahren und betreibt im Raum Düsseldorf zwei Supermärkte mit 80 Mitarbeitern. Die Genossenschaft sei eine soziale Art des Wirtschaftens, das würde er drei Mal unterstreichen.

"Das Wirtschaftswunder in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg basierte genau darauf, dass der Wohlstand auch bei den Menschen angekommen ist und nicht bei irgendwelchen Aktionären oder Hedgefonds versickert ist", sagt Stockhausen. Genossenschaften verfolgten am Markt keine kurzfristigen Ziele, im Gegenteil: Man habe die Chance, generationsübergreifend zu arbeiten. Theresia Theurl, Professorin für Genossenschaftswesen an der Universität Münster, sieht auch weitere Vorteile: "Die Menschen warten nicht bis jemand kommt und sie unterstützt, sondern man versucht, Eigeninitiative zu ergreifen. Man nimmt sein Schicksal selbst in die Hand."

Erich Stockhausen, REWE-Genossenschaftsmitglied(Foto: Rayna Breuer/DW)
Erich Stockhausen, REWE-GenossenschaftsmitgliedBild: DW/Rayna Breuer

 Die kleinen Tücken

"Es bedeutet viel mehr Aufwand. Wenn sie ein Filialsystem haben, können sie direkt und zentral durchsteuern, wenn sie aber mit selbstständigen Kaufleuten arbeiten, müssen sie überzeugen", sagt Nonn. Die REWE zählt 2000 selbstständige Kaufleute, die in sechs Regionalgenossenschaften organisiert sind. Per Gesetz hat jedes Genossenschaftsmitglied eine Stimme – unabhängig von der Anzahl der Geschäftsanteile. "Es ist manchmal etwas langwierig, zu Ergebnissen zu kommen. Die Entscheidungsfindungen können länger dauern, weil sich jeder einbringen kann", bekräftigt Theurl. Das müsse aber kein Nachteil sein, weil dadurch Genossenschaften auch keine überhasten Entscheidungen treffen würden, sagt die Expertin.

Thomas Nonn, Mitglied der Geschäftsleitung im REWE-Vollsortiment (Foto: Rayna Breuer/DW)
Thomas Nonn, Mitglied der REWE-GeschäftsleitungBild: DW/Rayna Breuer

Solidarität ist das oberste Gebot in einer Genossenschaft – die Mitglieder unterstützen sich gegenseitig. Doch was, wenn alle ein Problem haben – nämlich Kapitalengpässe? Genossenschaftsanteile können nicht am Finanzmarkt gehandelt werden, also können sie sich frisches Geld auch nicht einfach durch die Emission von Aktien beschaffen: "Wenn Genossenschaften Eigenkapital brauchen, müssen sie sich das von ihren Mitgliedern holen oder gut wirtschaften, um Rücklagen aufzubauen", sagt Theurl. Aber auch dem gewinnt sie was Positives ab: "Dafür sind Genossenschaften nicht an die Vorstellungen und Präferenzen anonymer Investoren gebunden." Die Insolvenzrate bei Genossenschaften ist unterdurchschnittlich, gerade im Zuge der aktuellen Finanzkrise, wo eine Bank nach der anderen auf staatliche Unterstützung angewiesen ist, musste keine genossenschaftlich geführte Bank mit Steuergeldern gerettet werden.

Theresa Theurl, Professorin für Volkswirtschaftslehre Geschäftsführende Direktorin des Instituts für Genossenschaftswesen (Foto: IfG)
Theresa Theurl vom Institut für GenossenschaftswesenBild: IfG Münster

Weltweit anwendbar?

In Norwegen sind 99 Prozent der Milchbauern in genossenschaftlichen Strukturen organisiert. In Brasilien verantworten Genossenschaften 72 Prozent der nationalen Weizenproduktion und in Kenia halten Genossenschaften 70 Prozent des Kaffee- und sogar 95 Prozent des Baumwollmarktes. Gerade in afrikanischen Ländern können Genossenschaften ein Rezept gegen die Armut und den Hunger sein: "Wenn in der Dominikanischen Republik der Tourismus genossenschaftlich organisiert wäre, dann würde sicherlich etwas in der Bevölkerung ankommen, man könnte einen gewissen Wohlstand in der Breite generieren", sagt Stockhausen, der ein Patenkind in der Dominikanischen Republik hat und regelmäßig dort seinen Urlaub verbringt.

Ein Bauer erntet Kaffeebohnen in Kenia (Foto: TONY KARUMBA/AFP/Getty Images)
Kaffeeernte in KeniaBild: TONY KARUMBA/AFP/Getty Images

Auch Theurl sieht die Genossenschaftsidee als eine Lösung für die weniger entwickelten Länder, die gerade in der Landwirtschaft oder im Bankenwesen Früchte tragen kann: "Man würde nicht nur Geld schicken, sondern auch Know How. Auf dieser Grundlage können die Menschen dort Genossenschaften gründen. Doch dafür müssen zunächst einmal Strukturen aufgebaut werden – Gesetze und Institutionen."

Doch nicht alle können mit dem Modell der Genossenschaften etwas anfangen – insbesondere jene Länder, die zur Zeit des Ost-West-Konflikts sozialistisch geführt wurden: "Die Menschen im Osten Deutschlands verbinden mit Genossenschaften noch das, was sie im alten Regime kennengelernt haben. Das waren damals Produktivgenossenschaften in staatlicher Hand, wo wenig funktioniert hat", sagt Theurl. Deswegen sehe man die Genossenschaft dort als eine weniger zeitgemäße Organisationsform.