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Russland und der 22. Juni 1941

20. Juni 2011

Am 22. Juni 1941 überfiel die Wehrmacht die Sowjetunion. Hitlers Vernichtungskrieg im Osten begann. Wie denkt man über dieses Datum heute in Russland? Veteranen und Historiker beschreiben den Umgang mit der Tragödie.

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Deutsche Panzereinheit auf dem Vormarsch in der Sowjetunion (Foto: akg-images)
Deutsche Panzer auf dem Vormarsch in der SowjetunionBild: picture alliance/akg Images

"Es war ein sehr heißer Tag. Ich bereitete mich gerade auf eine Prüfung vor. Plötzlich kam ein Verwandter und schrie direkt von der Torpforte zu mir rüber: 'Deutschland hat uns überfallen'. Sofort lief ich zum Wohnheim. Zusammen mit den Jungs, die im Hof Volleyball gespielt hatten, suchten wir ein Zimmer mit einem Radiogerät auf. Wir waren jung und naiv und wetteten unter uns, wie lange wohl der Krieg dauern würde, bis wir siegen: zwei-drei Monate? Manche sagten sogar ein halbes Jahr", erinnert sich der Moskauer Veteran Stepan Karnauchov an "seinen" 22. Juni 1941. Damals lebte er in Sibirien, im Irkutsker Gebiet. Später, zwischen 1942 und 1945, hat er an der Front gekämpft - zunächst als Panzerabwehrschütze und dann als Funker. In ein paar Wochen wird Stepan Karnauchov 87 Jahre alt. An den Kriegsbeginn vor 70 Jahren erinnert er sich noch immer sehr detailliert.

Wichtiges Kapitel in Familiengeschichten

Potrait von Irina Scherbakova (Foto: DW)
Irina Scherbakova: "Der 22. Juni war für die Sowjetführung ein unbequemes Datum."Bild: Irina Scherbakowa

Das sei typischer Erzählstoff in den Familien, meint die russische Historikerin Irina Scherbakova. "Ich weiß, wo an diesem Tag mein Vater, meine Mutter, meine Oma waren, wie sie über den Krieg erfahren haben. Denn es war der Tag, der das Ende des vorherigen Lebens bedeutete". Es gibt kaum eine Familie in Russland, die von den Ereignissen des Krieges verschont geblieben ist. Trotz der anfänglichen sowjetischen Propaganda über das baldige Kriegsende wurde allen ziemlich schnell klar, dass es ein Krieg ums Überleben war. Die brutale Ausführung des von Hitler angekündigten "Vernichtungskampfes" im Osten ließ keinen Zweifel daran.

Die sowjetische Propaganda titulierte den Krieg als "Großen Vaterländischen Krieg" und appellierte so an Widerstandskraft und Durchhaltewillen der Bevölkerung. Und tatsächlich wurde er zum Volkskrieg: Selten in der Geschichte der Sowjetunion stimmten die Ziele der kommunistischen Regierung und die ihrer Bürger so sehr überein. Im Volksgedächtnis war und bleibt der 22. Juni 1941 der Beginn einer großen Tragödie, die letztendlich mindestens 27 Millionen Sowjetbürgern das Leben kostete.

Verbotene Erinnerung an die eigenen Verluste

Soldaten marschieren über den Roten Platz in Moskau (Foto: AP)
Russland begeht am 9. Mai das Kriegsende mit MilitärparadenBild: AP

Im offiziellen Gedächtnis der Partei- und Staatsführung, so Irina Scherbakova, wurde der 22. Juni 1941 jedoch lange Zeit verdrängt. Denn es sei ein unbequemes Datum gewesen. "Dieses Datum zog ja eine ganze Reihe von unbequemen Fragen nach sich: Fragen nach der absolut schlechten Vorbereitung auf den Krieg, nach der Verantwortung für die großen Verluste, nach dem hohen Kollaborationsgrad am Anfang des Krieges und so weiter", erklärt die Historikerin. "Im Zusammenhang mit diesem Datum hätte man manche katastrophalen Niederlagen der ersten Kriegsmonate erklären müssen. Das widersprach aber der offiziellen national-patriotischen Idee und der Mythologisierung des Krieges, der fast ausschließlich als Geschichte unserer Siege dargestellt wurde."

Erst mit der Perestrojka Ende der 80er Jahre und dem Zusammenbruch der Sowjetunion wurden viele Tabus und für die UdSSR unvorteilhafte Geheimnisse des Krieges gelüftet. In der öffentlichen Erinnerungskultur in Russland wird nach wie vor dem 9. Mai, also dem Tag des Kriegsendes, eine wichtigere Rolle beigemessen: Schließlich ist das ein unumstrittener Triumphtag, ein Tag der Freude und des Sieges.

Schon längst kein Hass und Zorn mehr

Zorn oder Hass auf die Deutschen hat man aber in Russland schon längst nicht mehr. Für die Normalisierung der Verhältnisse spielten mehrere Faktoren eine Rolle, meint Historikerin Irina Scherbakova. "Erstens hat Russland diesen Krieg letztendlich gewonnen. Und die Deutschen haben sehr schnell die Rolle der Unglücklichen eingenommen", erklärt sie. "Zweitens sind Deutsche in der Erinnerung des größten Teils der heutigen Zeitzeugen, d.h. der Jugendlichen und Kinder der Nachkriegszeit, unglückliche und hungrige Kriegsgefangene, die beim Wiederaufbau mitwirkten". Und drittens hätten sich die guten Beziehungen zwischen der Sowjetunion und der DDR - wie auch immer man sie bewerten mag - positiv ausgewirkt, sagt Scherbakova.

Normale menschliche Kontakte haben zur Entdämonisierung der Deutschen beigetragen. Übrigens ist der Begriff "Unternehmen Barbarossa" - Deckname für Hitlers Pläne des Überfalls auf die UdSSR und eines Blitzkrieges im Osten - im Russischen längst zur stehenden Redewendung geworden: im übertragenen Sinne werden so große, aber nicht realisierbare Pläne bezeichnet.

"Ein Hitler kommt und geht, aber das deutsche Volk bleibt"

Portrait von Stepan Karnauchov (Foto: DW)
Stepan Karnauchov kämpfte von 1942 bis 1945 an der FrontBild: Stepan Karnauchov

Der Moskauer Veteran Stepan Karnauchov erzählt, dass sich sein Verhältnis zu den Deutschen praktisch direkt mit dem Kriegsende änderte. Sie hätten auf ihn schon in Berlin, wo er 1945 den Sieg erlebte, einen guten Eindruck gemacht. Später war er mehrmals in der DDR. Er besuchte sogar West-Berlin. "Ja, wir waren mal Feinde. Aber man hat uns so erzogen, dass das deutsche Volk für die Verbrechen seiner Führer nicht in jeder Hinsicht verantwortlich ist. 'Ein Hitler kommt und geht, aber das deutsche Volk bleibt.' Auf der einen Seite waren wir Opfer des Hitler-Regimes, aber auf der anderen waren sie es auch", meint der Aktivist des Moskauer Veteranenrates.

Der 86-jährige Veteran Karnauchov wird am 22. Juni zu einer Gedenkveranstaltung am Weißrussischen Bahnhof in Moskau gehen. Von dort fuhren die Züge mit den Soldaten während des Krieges an die Front ab. Er hofft, manche seiner ehemaligen Kameraden zu treffen. "Mein Regimentkommandeur lebt noch, er ist 94 Jahre alt", verkündet Stepan Karnauchov fast stolz.

Autorin: Olga Sosnytska
Redaktion: Bernd Johann