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Literatur

Ernst Haffner: "Blutsbrüder"

Aygül Cizmecioglu spe
6. Oktober 2018

Sie stehlen, verkaufen ihre Körper und prügeln sich durch das Berlin der Dreißigerjahre. Ernst Haffners Roman ist ein schonungsloser Blick auf das Leben obdachloser Jugendlicher im Gewühl der Großstadt.

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Arbeitslose in Berlin um 1930 / Foto - - Chômeurs à Berlin v. 1930 / Photo
Bild: picture-alliance/akg-images

Ihre Spezialität ist es, ahnungslosen Freiern die Geldbörse aus der Tasche zu ziehen. Gewieft muss man dafür sein und keine Skrupel haben. Die "Blutsbrüder" - das sind Ludwig, Fred, Walter, Hans und all die anderen verwahrlosten Jugendlichen, die sich mit Diebstählen, Hehlerei und schneller Prostitution durch den Großstadtdschungel Berlin schlagen. 

Sumpf aus Armut und Prostitution

Einige der jungen Männer zwischen 16 und 19 Jahren sind vor prügelnden Vätern geflohen. Die anderen aus Fürsorgeanstalten ausgebüchst, in denen zu Weimarer Zeit Zehntausende Jugendliche verwahrt wurden – vor allem solche, deren Familien im Ersten Weltkrieg oder unter der Wirtschaftskrise zerbrochen waren. Entwurzelte, minderjährige Verlierer.

"Blutsbrüder" von Ernst Haffner

"Schon als sie ihre ersten o-beinigen Gehversuche machten, waren sie sich selbst überlassen. Vater war im Krieg oder stand bereits auf der Verlustliste. Und die Mutter drehte Granaten oder hustete ihre Lungen in den Pulver- und Sprengstofffabriken zentigrammweise aus. Die kohlrübenbauchigen Kinder  – nicht einmal mehr kartoffelbäuchig waren sie – luchsten in Höfen und auf den Straßen nach Essbarem."

Die Parole der Clique lautet: "Kohldampf im Bauch, Brand in der Kehle". Sie irrlichtern durch die modrigen Hinterhöfe Berlins und dösen auf den Bänken im Wartesaal der Erwerbslosenhilfe. Verlauste Kaschemmen und heruntergekommene Bierlokale, in denen sich die Jungs für ein paar Mark prostituieren.  

"Eine überhitzte Atmosphäre pervertierter Erotik. Frauenaugen kranken nach Mädchenblicken, Männer erhitzen sich an männlichem Fleisch… Begierden, müde der gebadeten und siebenmal gesalbten Körper, flackern nach der weniger sauberen, aber derberen Kost der Proletarierjungen."

Verbrannt und vergessen

Ein Sumpf aus Armut, Kriminalität und Prostitution. Diese Jugendclique hat so gar nichts von den niedlichen Banden, die Erich Kästner ein paar Jahre zuvor etwa in "Emil und die Detektive" beschrieben hatte. Ernst Haffner zeigte die hässliche Fratze der pulsierenden Großstadt aus der Sicht junger Überlebenskünstler. 

Als sein Roman 1932 unter dem Titel "Jugend auf der Landstraße Berlin" erschien, gab es fast keine Resonanz. Womöglich war vielen Kritikern die Sprache zu drastisch, zu radikal. Ernst Haffner kannte das Milieu der Underdogs als Journalist und Sozialarbeiter nur zu gut. Sozialromantik zwischen zwei Buchdeckeln war ihm zuwider. Er wollte so schreiben, wie die Jungs auf der Straße auch sprachen – lakonisch, direkt, nüchtern. 

Buchcover Blutsbrüder von Ernst Haffner Aufbau Verlag.

Sein Episodenroman im Stil der "Neuen Sachlichkeit" überzeugt bis heute mit einer glasklaren, plastischen Sprache, die unter die Haut geht. Man zuckt zusammen, wenn man die Abstumpfung mitbekommt, mit der Willi und die anderen ihre Körper verkaufen, und schmunzelt über die Momente der Vertrautheit, wenn eine letzte Zigarette brüderlich geteilt wird. 

Haffners literarische Sozialreportage war den Nationalsozialisten ein Dorn im  Auge. Deutsche Jungs als verwahrloste Kriminelle und Stricher – das passte nicht in ihr heroisches Männerbild. 1933 verbrannten sie seinen Roman zusammen mit Tausenden anderen "schädlichen und unerwünschten Büchern". In den Kriegsjahren verliert sich dann auch Ernst Haffners Spur. So sehr er den verrohten Jugendlichen der Straße ein literarisches Gesicht gab, so wenig weiß man etwas über den Autor selbst. Kein Foto, kein weiteres Buch – Ernst Haffner blieb der große Unbekannte der deutschen Literatur… bis heute!

 

Ernst Haffner: Blutsbrüder (1932), Aufbau Verlag

Von Ernst Haffner ist lediglich bekannt, dass er 1925 bis 1933 in Berlin gemeldet war und dort als Journalist und Sozialarbeiter lebte. 1938 wurde er zur Reichsschrifttumskammer zitiert – danach verliert sich seine Spur.