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Politik

"Zu viele Emotionen - zu wenig Argumente"

Notker Oberhäuser
26. Juli 2018

Die 21-Jährige Elin Ersson hält ein Flugzeug in Göteborg auf, weil sie einen Afghanen vor der Abschiebung retten will. Sie filmt die Aktion. Der Politikwissenschaftler Andreas Heinemann-Grüder versucht eine Einordnung.

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Schweden Abschiebung von Asylsuchenden
Bild: picture-alliance/dpa/J. Nilsson

Der Fall sorgte für Aufsehen. Die 21-Jährige Schwedin Elin Ersson hält ein Flugzeug in Göteborg auf,  weil sie glaubt, an Bord sei ein Afghane, der abgeschoben werden soll. Mit dem Smartphone hat sie die Szenen gefilmt und live auf ihren Facebook-Account geladen.

Prof. Dr. Andreas Heinemann-Grüder ist Politikwissenschaftler an der Universität Bonn; er beschäftigt sich mit Friedens- und Konfliktforschung und mit autoritären politischen Regimen. Im Gespräch mit der Deutschen Welle versucht er eine Einordnung.

Deutsche Welle: Sie haben das Facebook-Video gesehen, das Elin Ersson im Flugzeug gefilmt hat. Was war Ihr erster Eindruck?

Heinemann-Grüder: Ich habe eine junge Frau gesehen, die sich für jemanden einsetzt. Die Umstände bleiben aber erst einmal unklar. Sie versucht die Insassen des Flugzeugs auf die eigene Seite zu ziehen. Was dubios ist: Den Afghanen, den sie schützen will, kennt sie gar nicht, und er ist auch nicht im Flugzeug. Deshalb hat sie den Afghanen genommen, der im Flugzeug saß. Ihr Credo ist klar: Grundsätzlich dürfen keine Afghanen zurückgeführt werden, weil es zu gefährlich ist.

"Ein emotionaler Tsunami"

Dann dachte ich mir, hier rollte ein emotionaler Tsunami auf mich zu - und ich soll mich positionieren. Mir fehlte eine weitere Perspektive - im Video wird die Perspektive nur einer handelnden Person gezeigt, von der ich aber zu wenig weiß.

In dem Video sagt Elin Ersson: "Ich tue was ich kann, um die Gesetze in meinem Land zu ändern. Ich mag sie nicht. Es ist nicht richtig, Menschen in die Hölle zu schicken." Wie schätzen Sie diese Haltung ein? Darf ich geltende Gesetze missachten, um Gesetze, die mir nicht passen, zu verändern?

Jeder hat in einer Demokratie und in einem Rechtsstaat das Recht, Kritik an Gesetzen zu üben. Ob das jetzt das Recht auf Selbstermächtigung miteinschließt, hängt von den Umständen und dem Grad der Gerechtigkeitsverletzung ab. Nicht in jedem Fall hat man ein Recht auf zivilen Ungehorsam und Widerstand, nur weil einem das Gesetz nicht passt. Es kommt immer auch auf die Dimension der Verletzung an. Wenn ein Gesetz einen Genozid rechtfertigen soll, hat das eine andere Dimension als in dem hier geschilderten Fall, in dem die Umstände völlig unklar sind.

Kirchenasyl ist Ultima Ratio

Auch beim Kirchenasyl werden Menschen, die von der Abschiebung bedroht sind, geschützt. Das ist meist ein letzter Versuch, einen konkreten Fall vor dem Hintergrund der Gefährdung für den Abgeschobenen oder seiner Familie nochmals prüfen zu lassen. Und darauf lassen sich de facto die Innenministerien in Deutschland ein. Es gibt also durchaus Formen zivilen Ungehorsams, die vom Staat in begrenzter Form respektiert werden. Das ist aber kein Freifahrtschein für die Kirchen, sich außerhalb der Gesetze zu stellen.

Wann habe ich das Recht, mich gegen Gesetze aufzulehnen?

Zum ersten, wenn das Recht selber systematisch ungerecht ist - das heißt, wenn das Recht auf Unrecht basiert. Das ist der Fall, wenn fundamentale Menschenrechtsverletzungen vorliegen. Hier darf die Forderung: "Wenn Recht zum Unrecht wird, wird Widerstand zur Pflicht" angewandt werden. In dem Fall gibt es also ein höheres Recht, weil man sich auf die Menschenrechtskonvention berufen kann. Das trifft auch zu, wenn das Recht nur von oben gesetzt wird, ich aber keine Verfahrensgerechtigkeit habe - dann gibt es auch ein Recht auf zivilen Ungehorsam.

Andreas Heinemann-Grüder
Andreas Heinemann-Grüder, KonfliktforscherBild: Imago/M. Popow

Auch gibt es international anerkannte Formen von zivilem Ungehorsam. Wenn das Recht auf Selbstbestimmung verletzt wird oder ganze Gruppen kollektiv verfolgt werden, existiert das Recht auf zivilen Ungehorsam, wenn nicht sogar ein Widerstandsrecht. So gab es in Deutschland ein Widerstandsrecht gegen Adolf Hitler. Es hängt also vom Kontext und dem Bruch übergeordneten Rechts ab.

Wie bewerten Sie den Fall generell?

Generell habe ich meine Zweifel. Zum ersten agierte Ersson alleine und nicht in einer Gruppe. Dann kannte sie den konkreten Fall überhaupt nicht. War der Afghane ein Gefährder? Wohin sollte er abgeschoben werden? Nicht alle Regionen in Afghanistan sind gefährlich.

Frau Ersson hat zu viele Emotionen und zu wenig genaue Argumente vorgebracht. Ich denke, der Hauptadressat war die Internetgemeinde, und gleichzeitig wollte sie ihre Aktivistengruppe bekanntmachen.

"Emotionale Erhitzung"

Der Fall Ersson hat gezeigt, dass man mit wenig Aufwand große Wirkung erzielen kann. Welchen Einfluss, welche Effekte haben soziale Netzwerke auf Aktivistengruppen?

Die Bedeutung von sozialen Netzwerken haben wir im arabischen Frühling gesehen: Hier wurde ein schneller Resonanzboden geschaffen - die Emotionalisierung passierte schnell. Gleichzeitig unterstützen soziale Netzwerke die Polarisierung in Unterstützer und Gegner. Ich sehe die Gefahr bei kurzen Meldungen, die auf wenigen Fakten basieren, dass lediglich wenig nachhaltige Strohfeuer-Effekte entstehen. Das sieht man immer wieder bei diesen Protestformen: Sie erzeugen schnell emotionale Erhitzung, verpuffen aber wieder schnell, weil das organisatorische Rückgrat fehlt.

Und das haben wir auch im arabischen Frühling gesehen: Gewinner waren die organisierten Akteure und nicht die vielen Facebook- und Twitternutzer. Eine qualifizierte Arbeit von Nichtregierungsorganisationen ersetzen die Soziale Medien nicht - Professionalisierung trägt zur Glaubwürdigkeit bei.

Mehr Schaden als Nutzen

In dem hier diskutierten Fall ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass Elin Ersson ihre Ziele nicht erreichen wird, weil sie aufgrund ihrer mangelnden Professionalität sehr schnell diskreditiert werden kann. Die ganze Aktion könnte als "Gutmenschentum" abgetan werden. Am Ende könnte sie damit dem eigentlichen Anliegen mehr geschadet als genützt haben.

Prof. Dr. Andreas Heinemann-Grüder ist Politikwissenschaftler an der Universität Bonn; seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Friedens- und Konfliktforschung, auf autoritären politischen Regimen und in der vergleichenden Föderalismusforschung.

Das Gespräch führte Notker Oberhäuser.