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"Ohne Inklusion gibt es keine Demokratie"

Elizabeth Schumacher
22. September 2021

2019 entschied das Bundesverfassungsgericht: Erwachsene mit einem rechtlichen Betreuer dürfen nicht mehr von Wahlen ausgeschlossen werden. Viele von ihnen wählen am 26. September zum ersten Mal.

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Hannah Kauschke
Freut sich über politische Teilhabe: Hannah KauschkeBild: Grzegorz Szymanowski

Der 26. September wird ein großer Tag für Hannah Kauschke. Sie wird zum ersten Mal bei einer Bundestagswahl ihre Stimme abgeben - dabei ist sie schon 30 Jahre alt. "Ich freue mich sehr darauf", sagt Kauschke mit Blick auf den Wahlsonntag. Zurückblickend fügt sie hinzu: "Man hätte den Menschen mit Behinderung in Deutschland wirklich schon früher mehr Rechte geben können. Wir haben unsere eigene Meinung!"

Zum Beispiel zum Thema Umweltschutz. Der gehört für Kauschke zu den wichtigsten Themen in Deutschland, insbesondere nach der Hochwasserkatastrophe im Juli im Westen des Landes. Ihr größter Wunsch an die neue Regierung aber ist, "dass man uns Menschen mit Behinderungen zuhört und uns ernst nimmt", sagt sie.

Kauschke arbeitet in einem Bio-Supermarkt in Nürnberg. Dort räumt sie Müsli in die Regale, sortiert Gemüse und Brotaufstriche, holt Olivenöl und Waschmittel aus dem Lager. Wegen ihrer Behinderung hat sie einen rechtlichen Vormund: ihre Mutter, die zweimal pro Woche nach ihr sieht. Rechtliche Betreuer unterstützen bei bürokratischen Angelegenheiten; sie helfen bei Entscheidungen über medizinische Behandlungen oder wenn es um Geldangelegenheiten geht - immer dann, wenn behinderte Erwachsene solche Angelegenheiten nicht allein regeln können. Bestellt werden rechtliche Betreuer von einem Betreuungsgericht.

Symbolfoto der Briefwahlunterlagen zur Landtagswahl in Rheinland-Pfalz
Rechtliche Betreuer helfen bei Bedarf auch bei der BriefwahlBild: Jens Krick/Flashpic/picture alliance

Dass jetzt auch Menschen mit rechtlichen Betreuern wählen können, ist das Ergebnis des jahrzehntelangen Einsatzes von Aktivisten und Nichtregierungsorganisationen.

"Die Politik hätte das Gesetz längst ändern können", sagt Peer Brocke, Sprecher der Lebenshilfe, der größten deutschen Nichtregierungsorganisation für Menschen mit Behinderungen. "Aber wir mussten erst prozessieren, um dorthin zu kommen, wo wir heute sind."

Die Grünen und die Linkspartei, aber auch Sozialdemokraten hätten schon früh das Wahlrecht für alle deutschen Erwachsenen unterstützt, erklärt Brocke. "Aber viele in der CDU haben das verhindert. Die SPD hatte angekündigt, noch vor der Wahl 2013 einen Gesetzentwurf vorzuschlagen, aber nachdem sie mit der CDU die große Koalition gebildet hatte, ließ sie das Vorhaben fallen."

Angst vor Manipulation

Grund für den Widerstand der Christdemokraten von Angela Merkel war nach Ansicht von Brocke, dass sie "davon ausgingen, dass Erwachsene mit rechtlichen Betreuern sich keine eigene Meinung bilden könnten. Oder sie behaupteten, dass ihre Briefwahl manipuliert werden könnte." Das, so Brocke, gelte allerdings auch, wenn sehr alte Wähler die Briefwahl nutzten.

Auch Jürgen Dusel sieht das so. Der Mittfünfziger ist seit 2018 Beauftragter der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen. In den Medien und im gesellschaftlichen Alltag macht der gelernte Jurist eine Kultur der Behindertenfeindlichkeit aus. "Wir haben immer wieder die gleichen Argumente gehört: Dass manche Menschen mit Behinderungen sich keine eigene Meinung bilden könnten oder nicht verstehen würden, worum es geht... Ganz ähnlich haben die Gegner des Frauenwahlrechts vor 100 Jahren argumentiert."

Jürgen Dusel Behindertenbeauftragter der Bundesregierung
Setzt sich für die Rechte von Menschen mit Behinderungen ein: Jürgen Dusel Bild: BMAS/Tom Maelsa

Menschen mit Behinderungen, betont Dusel, seien keine homogene Gruppe. "Einige vom Wahlrecht auszuschließen ist nicht nur unfair, sondern auch verfassungswidrig. Ohne Inklusion gibt es keine Demokratie."

Vorausgegangen war ein sechs Jahre dauernder Rechtsstreit. Acht Deutsche mit Behinderung hatten die Bundesregierung wegen ihres Wahlrechts verklagt. Die Anwaltskosten hatten die katholische Caritas gemeinsam mit dem Verein Lebenshilfe übernommen. 2019 endlich entschied das Bundesverfassungsgericht, das höchste deutsche Gericht zugunsten der Kläger. Viele feierten das ganz praktisch: indem sie bei den kurz darauf stattfindenden Europawahlen zum ersten Mal ihre Stimme abgaben.

Inklusion in der Arbeitswelt

"Wahlrecht steht zu"

Das neue Gesetz betrifft Zehntausende von Deutschen. Die meisten haben eine Reihe von Lernbehinderungen, einige mit körperlichen Beeinträchtigungen. Sie alle benötigen einen gesetzlichen Betreuer - und wurden bis 2019 vom Wahlrecht ausgeschlossen.

"Alles, was man braucht, ist der Wille zu wählen, und es steht einem zu", betont Brocke. Der Lebenshilfe-Sprecher merkt an, dass ja auch niemand das politische Wissen anderer erwachsener Wähler prüfe oder etwa Menschen in Frage stelle, die ihre Wahlentscheidung vor allem vom Aussehen der Kandidaten abhängig machen.

Aktivisten verweisen auch auf die hohe Zahl an Analphabeten in Deutschland. Laut einer Studie der Universität Hamburg können 6,2 Millionen Erwachsene in Deutschland nicht richtig lesen und schreiben. Und doch habe es nie einen weit verbreiteten Aufruf gegeben, dieser Gruppe das Wahlrecht zu entziehen.

In Deutschland erhält jeder Wähler sechs Wochen vor einer Wahl einen Brief. Darin wird über die anstehende Wahl informiert und darüber, wie er seine Stimme abgeben kann: entweder im Wahllokal oder per Briefwahl. Diese Erklärungen und auch weitere Informationen zur Wahl sind für diejenigen, die sie benötigen, auch in einer einfacheren Sprache verfügbar. Manche brauchen vielleicht zusätzliche Hilfe beim Ausfüllen des Briefwahlzettels.

Aber Brocke glaubt nicht, dass dadurch das System für größere Manipulationen anfällig ist. Die würden eine Straftat darstellen. Und "wer riskiert schon bis zu vier Jahre Gefängnis für eine einzige Stimme?", fragte der Lebenshilfe-Sprecher.