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Erzwungene Geständnisse

Martin Fritz (aus Tokio)22. Dezember 2015

Japans Justiz beruht darauf, die Verdächtigen unter Druck zu setzen, damit sie ihre Tat gestehen. Dabei schießen die Strafverfolger immer wieder über ihr Ziel hinaus. Jeder zehnte Verurteilte soll unschuldig sein.

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Japans Oberster Gerichtshof (Foto: picture-alliance/Kyodo)
Japans Oberster GerichtshofBild: picture-alliance/Kyodo

Seit der Freilassung von Iwao Hakamada sind bereits fast zwei Jahre vergangen. Der Japaner hatte 46 Jahre lang in der Todeszelle auf seine Hinrichtung gewartet, so lange wie kein anderer Mensch auf der Welt. Angeblich hatte der heute 79-Jährige seine vierköpfige Familie ermordet. Als neue DNA-Untersuchungen seine Unschuld und zugleich Manipulationen der Polizei belegten, kam er im März 2014 frei. Der Justiz in Japan ist sein Fall so peinlich, dass die Staatsanwaltschaft die Wiederaufnahme des Verfahrens mit dem erwarteten förmlichen Freispruch bis heute verzögert. Zuletzt setzte sie durch, dass die Methodik des DNA-Tests erneut überprüft wird.

Iwao Hakamada saß seit 1966 in der Todeszelle, bis er im März 2014 freikam. (Foto: REUTERS/Kyodo)
Iwao Hakamada saß seit 1966 in der Todeszelle, bis er im März 2014 freikamBild: Reuters/Kyodo

"Die mentale Folter von Hakamada geht weiter", kritisierte Amnesty International die Blockadetaktik der japanischen Strafverfolger. Nun will die Menschenrechtsorganisation mit ihrem soeben fertiggestellten Dokumentarfilm "Iwao Hakamada", der ab März 2016 in Japan und danach im Ausland gezeigt wird, die Umstände des japanischen Justizwesens aufzeigen, die dem früheren Berufsboxer zum Verhängnis wurden. Nach eigenen Angaben wurde Hakamada in mehr als drei Wochen Polizeigewahrsam 264 Stunden verhört und dabei so lange bedroht und auch geschlagen, bis er ein Geständnis unterschrieb.

23 Tage Haft ohne Anwalt

Hakamada ist beileibe kein Einzelfall. Allein 2009 musste die Justiz zwei Angeklagte freisprechen, weil die Polizei ihre Geständnisse mit Psychofolter-Methoden erzwungen hatte. Damals hatten im Bezirk Kagoshima sechs von zwölf Beschuldigten nach massiven Dauerverhören und quälender Einzelhaft gestanden, eine Kommunalwahl mit illegalen Geld- und Sachspenden beeinflusst zu haben. Das Gericht begründete seine Freisprüche vor sechs Jahren damit, die Angeklagten hätten nur aus "Verzweiflung über die Marathonverhöre" gestanden.

Denn in Japan kann ein Verdächtiger bis zu 23 Tage lang in einer Polizeizelle eingesperrt werden, bei mehreren Vorwürfen sogar ein Mehrfaches dieser Zeit, ohne dass er einen Anwalt kontaktieren darf. Kenner sprechen von "daiyo kangoku" (Ersatzgefängnissen). Nach Ansicht von unabhängigen Beobachtern versucht das japanische Rechtssystem, Geständnisse durch diese Isolation um fast jeden Preis zu produzieren. In Deutschland ist ein solcher Polizeigewahrsam nur bis zum darauf folgenden Tages erlaubt.

Auch der Regisseur Masayuki Suo, der im Westen durch seinen Film "Shall we dance?" bekannt wurde, hat in seinem aufsehenerregenden Dokumentarfilm "Ich habe es einfach nicht getan" aus dem Jahr 2006 das japanische Justizwesen heftig kritisiert. "Die Grundlage jedes Rechtssystems besteht darin, falls es nur eine Spur von Zweifel an der Schuld eines Angeklagten gibt, den Fall neu zu untersuchen", sagte Suo über die Motivation für seinen Film. "Die Justiz in Japan denkt aber nicht so, vor allem die Richter. Das ist unglaublich und sehr problematisch."

In Japan werden Beschuldigte auch bei geringeren Vergehen sehr lange einzeln und isoliert in Gewahrsam gehalten, damit sie ein Geständnis unterschreiben. (Foto: Kyodo)
Ein Streifenwagen in der japanischen Hauptstadt TokioBild: picture-alliance/Christian Kober/Robert Harding

Geständnis als Schritt der Läuterung

Im japanischen Rechtsverständnis ist ein Geständnis der erste Schritt zur Läuterung des Täters. Und es liefert der Staatsanwaltschaft und dem Richter die beste Grundlage dafür, einen Angeklagten zu verurteilen, weil es häufig gleichwertig mit forensischen Beweisen gewertet wird. Wem in Japan der Prozess gemacht wird, hat deshalb fast immer vorher gestanden - und wird fast immer verurteilt. 99,8 Prozent aller Strafprozesse enden mit einem Schuldspruch. In 89 Prozent aller Prozesse gab es vorher ein Geständnis. Freisprüche gefährden die Karriere eines Staatsanwalts und eines Richters und untergraben die Glaubwürdigkeit der Polizei.

Deshalb kommt es oft zur sogenannten Geiseljustiz. Dabei werden Beschuldigte auch bei geringeren Vergehen häufig sehr lange einzeln und isoliert in Gewahrsam gehalten, damit sie ein Geständnis unterschreiben oder ein zuvor erpresstes Geständnis nicht mehr widerrufen. Nur wer gesteht, hat eine gute Chance, auf Kaution entlassen zu werden. Das Widerrufen eines Geständnisses verlängert den Prozess zudem häufig extrem. Daher raten die Anwälte oft von einem Widerruf ab, selbst wenn das Geständnis falsch ist.

(Archiv) 99,8 Prozent aller Strafprozesse enden mit einem Schuldspruch. (Foto: AFP)
Polizeikräfte in TokioBild: AFP/Getty Images

Unprofessionelle Ermittlungsarbeit

Ein weiterer Faktor ist die unprofessionelle Ermittlung der Strafverfolger, wenn sie sich auf einen möglichen Täter festgelegt haben. So saß der Nepalese Govinda Prasad Mainali seit 1997 im Gefängnis, weil er eine Japanerin ermordet haben sollte. Mainali hatte die Tat immer bestritten, doch 2003 bestätigte das Verfassungsgericht als oberste Instanz die lebenslange Haftstrafe. Sechs Jahre später stellte sich nach den DNA-Tests heraus, dass unter anderem die Spermien von einer dritten unbekannten Person stammten. Die Strafverfolger hatten diese DNA-Tests einfach unterlassen, obwohl die technischen Möglichkeiten bereits bestanden.

Sehr lange Zeit waren Politik und Justiz in Japan nicht bereit, dieses rücksichtslose System zu ändern. Bei den Freisprüchen für die Justizopfer bezweifelten die Gerichte meistens nur die Glaubwürdigkeit der Geständnisse, nicht aber ihre Freiwilligkeit. Auf diese Weise entgingen die beteiligten Justizpersonen einer Bestrafung. Inzwischen wurden jedoch Beweisaufnahme und Verhörmethoden überprüft, um falsche Geständnisse zu verhindern. In einer wachsenden Zahl von Polizeistationen sind inzwischen Videoaufzeichnungen üblich. Allerdings werden nicht alle Verhöre aufgezeichnet, so dass noch genügend Schlupflöcher bleiben, um die Verdächtigen unter Druck zu setzen. Anwälte schätzen, dass jeder zehnte Verurteilte unschuldig im Gefängnis sitzt.