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"Es ist jetzt Zeit für die Nagelprobe"

Das Interview führte Steffen Leidel6. Dezember 2004

Der Direktor des Deutschen Orient-Instituts, Udo Steinbach, spricht sich im DW-WORLD-Interview für Beitrittsverhandlungen mit der Türkei aus. Er zeigt sich beeindruckt von den Fortschritten im Land.

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Udo Steinbach: eine behutsame Reislamisierung in der TürkeiBild: dpa

DW-WORLD: Welche Zusagen sollten der Türkei auf dem EU-Gipfel am 16. und 17. Dezember gemacht werden?

Udo Steinbach: Es sollte die Zusage gemacht werden, dass Beitrittsverhandlungen irgendwann im Jahre 2005 beginnen. Gleichzeitig muss aber noch einmal deutlich gemacht werden - so wie man das in den vergangenen Wochen getan hat -, dass das Ende und das Ergebnis offen sind. Es sind Gespräche, Verhandlungen, die durchaus unterbrochen und auf Eis gelegt werden können, wenn sich zeigt, dass die Türkei nicht in der Lage sein wird, die Mindeststandards im Sinne der Kopenhagener Kriterien zu erfüllen.

Werden sich die Türken denn mit "ergebnisoffenen" Verhandlungen zufrieden geben?

Das tun sie. Ihnen geht es darum, das Datum für Verhandlungen zu bekommen, das sollte nicht allzu fern vom 17. Dezember 2004 liegen. Sie sind natürlich erregt über diese Formel "offenes Ergebnis". Man fasst das ein bisschen so auf in Ankara, als sei damit ein Scheitern intendiert.

Aber die Signale aus Brüssel sind anders: Man will verhandeln und insbesondere die deutsche und französische Regierung haben klar gemacht, dass es losgehen kann. Ich glaube, dass die Aufregungen, die in Ankara in den letzen Wochen entstanden sind, eben über diese Perspektive des Scheiterns, die mit einem Mal von einigen Kreisen der EU in der Vordergrund gerückt wird, fehl am Platz ist.

Die Mehrheit der Deutschen ist nach wie vor gegen einen Beitritt der Türkei. Politiker wie Bundeskanzler Gerhard Schröder oder der französische Staatspräsident Chirac sprechen sich dennoch explizit für Verhandlungen aus. Wird hier nicht gegen den Willen der Bevölkerung Politik gemacht?

Wir müssen zuwarten. Es geht im Moment nur um den Beginn von Verhandlungen. Ich verstehe, dass in Europa Verunsicherung herrscht, dass die Öffentlichkeit eher zögerlich ist, dass breite Kreise sogar abwehrend reagieren vor dem Hintergrund der vielen Unsicherheiten.

Aber mein Votum wäre: Ja zu einem Datum mit offenem Ausgang. Dieses Ja muss in einer Situation kommen, in der politische Führung gefragt ist. In dieser wichtigen Entscheidung mit Blick auf die Türkei sollte man für den Augenblick die öffentliche Meinung außen vor lassen und es sollten die politischen Führer in der EU sein, die ein Votum fällen.

Was ist ihr schlagendstes Argument für die Aufnahme von Verhandlungen mit der Türkei?

Vierzig Jahre haben wir ein Auf und Ab erlebt. In den letzten fünf Jahren haben wir einen rasanten Prozess der Annäherung der Türkei an die europäischen Standards erlebt. Ich glaube es ist jetzt Zeit, die Nagelprobe zu machen. Ich bin beeindruckt von den Fortschritten, die gemacht worden sind und möchte testen, ob diese Fortschritte dergestalt sind, dass sie am Ende weitreichend genug sind, um die Türkei in die EU hineinzuführen.

Welche Fortschritte meinen Sie?

Es gab seit 2002 sieben Reformpakete, die im türkischen Parlament geschmiedet worden sind. Sie betreffen fast alle Problembereiche, von den Minderheitenrechten, über die Todesstrafe, über die Folter bis hin zu wirtschaftspolitischen Maßnahmen sowie der Trennung von Staat und Politik. Hier hat sich die Türkei in einer rasanten Weise europäischen Standards angenähert. Diese Reformpakete sind ganz gezielt ausgerichtet auf Europa.

Das letzte was wir diesbezüglich erlebt haben, war die Strafrechtsreform, die am Ende eine Reform im europäischen Sinn war, und die nachdrückliche Empfehlung der türkischen Regierung an die Zypern-türkische Bevölkerung ein Ja abzugeben mit Blick auf die Wiedervereinigung der Insel.

Viele Kritiker sagen, dass dies nur Fortschritte auf dem Papier sind. Kirchliche Organisationen haben jüngst kritisiert, dass die “Null-Toleranz-Politik” gegen Folter nicht umgesetzt wird. Zudem haben einige kirchliche Organisationen wie Missio beklagt, dass ihre Arbeit weiterhin behindert wird. Was halten Sie von diesen Aussagen?

Das muss gesagt sein. Die Folter ist zwar abgeschafft, aber es wird noch immer gefoltert. Das wissen wir. Deswegen ist die Türkei ja keineswegs reif am heutigen Tage für einen Beitritt. Es sind wichtige Schritte unternommen worden, es müssen weitere Schritte unternommen werden: die kurdische Frage ist nicht vom Tisch. Kurdischer Schulunterricht kann erteilt werden, aber wie viele Auflagen gibt es von Seiten des Staates.

Die Situation der nicht-islamischen Minderheiten, insbesondere der christlich orthodoxen, armenischen Kirche ist noch immer bedauerlich. Da ist zwar einiges geschehen in Sachen des Stiftungsrechts. Aber die Kirchen haben keineswegs die Rechte und die Rechtsstellung, wie sie beispielsweise der Islam in europäischen Gesellschaften hat.

Ein Argument, dass gegen eine Aufnahme der Türkei in die EU immer wieder genannt wird, ist die Befürchtung, die Türkei sei nicht mit einer "europäischen Identität" kompatibel.

Was soll denn eine "europäische Identität" sein? Habe ich hier als Hamburger Akademiker die gleiche europäische Identität wie ein sizilianischer Bauer oder ein finnischer Lappe? Wir haben alle ein bestimmtes Verhältnis zu Europa, aber das ist in den Einzelheiten sehr unterschiedlich. Die Türkei hat sich europäisiert seit den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts. Es gab zum Beispiel eine Rechtsreform, wo das islamische Recht zu Hundert Prozent aus dem Rechtsleben ausgeschieden und europäisches Recht eingeführt worden ist.

Lesen Sie im zweiten Teil, was Steinbach von der Regierung Erdogan hält und warum er eine "Verdunklung des Bildes des Islam" befürchtet.

Einige Kritiker bemängeln, in der Diskussion über den Beitritt der Türkei würden radikalislamische Tendenzen übersehen und verharmlost.

Die gibt es in der Türkei auch. Aber die jetzige türkische Regierung wollen wir alles andere als radikalislamisch nennen. Das ist eine Form von Islam, die in ein säkulares, laizistisches System passt. Dieses säkulare System passt noch nach Europa. Dass es in der Türkei Radikale gibt, ist nicht zu leugnen. Aber der Staat, die Gesellschaft, die Türkei als Ganzes ist doch weit davon entfernt, eine radikalislamische Größe zu sein.

Dennoch: Viele sehen in Ministerpräsident Erdogan nach wie vor einen Wolf im Schafspelz.

Deswegen führen wir ja gerade Verhandlungen. Meine türkischen Freunde sind alle skeptisch, was Herrn Erdogan betrifft. Aber er hat in der Diskussion um die Strafrechtsreform, um die Strafbarkeit des Ehebruchs eine pragmatische Linie am Ende verfolgt, die darauf hinauslief, das Strafgesetzbuch zu europäisieren, akzeptabel zu machen für die Europäer. Was er dabei gedacht haben mag, ist doch nicht unsere Sache. Es geht darum, was auf dem Tisch liegt und was entschieden wird und was die Türkei am Ende in die Institutionen der EU hineingibt.

Nach dem Mord an dem niederländischen Filmemacher folgte eine hitzige Diskussion um Integration von Ausländern. Werden sich diese Ereignisse auf die Verhandlungen auswirken?

Die Tatsache, dass die Türkei-Diskussion in den letzten zwei, drei Jahren, insbesondere nach dem 11.9 so stark kulturalisiert worden ist und der Islamfaktor so stark in den Vordergrund gerückt worden ist, hat etwas zu tun mit dem verdunkelten Bild des Islam, der sich verdunkelten Wahrnehmung des Islams in Europa.

Das gleiche, diese Verdunklung des Bildes des Islams, des Muslims, gilt für den Casus Van Gogh. Der Bürger in unserem Land hat in der Tat ein eher skeptisches, abwehrendes, negatives Islambild und das gilt es zu überwinden. Und da stimme ich denen zu, die sagen, das ist nicht allein Sache der nicht muslimischen Mehrheit, sondern da muss und wird hoffentlich die muslimische Gemeinde mehr tun.

Und tut sie das?

Die ersten positiven Reaktionen haben wir erlebt. Massen von Muslimen gehen auf die Straße und demonstrieren gegen Gewalt, Terror, Mord und die Vergewaltigung des Islams für politische und kriminelle Zwecken. Wenn wir so etwas häufiger sehen, wird sich bei uns der Eindruck festigen, dass zwischen dem radikalen Islam und dem Türken, dem Muslim der Mitbürger in der Eu werden will, Welten liegen.

Udo Steinbach ist seit 1976 Direktor des Deutschen Orient-Instituts (DOI) in Hamburg.