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"Es müssen legale Wege eröffnet werden"

1. Februar 2012

Birgit Naujoks vom Flüchtlingsrat NRW wirft Europas Politikern vor, einseitig auf Abwehr an den Außengrenzen zu setzen - und dabei den Tod von Menschen in Kauf zu nehmen.

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Birgit Naujoks (Foto: Flüchtlingsrat NRW)
Birgit NaujoksBild: Flüchtlingsrat NRW

DW-WORLD.DE: Strengere Überwachung der Außengrenzen, überfüllte Auffanglager, Drittstaatenregelung – hat Europa Ihrer Meinung nach den richtigen Umgang mit Flüchtlingen aus Afrika und anderen Weltregionen gefunden?

Birgit Naujoks: Nein, ganz sicher nicht. Europa setzt einseitig auf Abwehr an den Außengrenzen und nimmt dabei alltäglich den Tod von Menschen in Kauf. Dabei geht man von dem Irrglauben aus, man könne den eigenen Wohlstand, das eigene gesellschaftliche System und damit die ungerechte Verteilungssituation durch die Errichtung ausreichend hoher "Mauern" sichern. Dies hat sich in der Vergangenheit immer als Trugschluss erwiesen - man denke beispielsweise an die Mauer zwischen Ost- und Westdeutschland oder die Grenze zwischen USA und Mexiko

Wie sollte Europa Ihrer Ansicht nach mit den zahlreichen irregulären Migranten umgehen, die bereits in der EU leben?

Vor allem muss Europa Flüchtlinge als Menschen behandeln. Im Fokus steht nicht die Frage, wie mit hier lebenden Flüchtlingen umgegangen wird, sondern wie man sie schnell wieder abschieben kann. Deutschland ist in der "glücklichen Lage", von sicheren Drittstaaten umgeben zu sein, sodass nur wenige Menschen nach Deutschland gelangen. Dennoch wird pure Abschreckungspolitik betrieben: Sozialleistungen weit unter dem Existenzminimum, Einschränkungen in der Bewegungsfreiheit, Arbeitsverbot und so weiter. Diese diskriminierenden Regelungen müssen abgeschafft werden. Innerhalb Europa muss ein gerechteres Verteilungssystem installiert werden, um Länder an den Außengrenzen wie Italien und Griechenland zu entlasten und allen Flüchtlingen ein rechtstaatlichen Anorderungen genügendes Asylverfahren zu gewährleisten.

Trägt Europa selbst eine Mitverantwortung für Abwanderungen aus Weltregionen wie Afrika, beispielsweise durch eine unfaire Wirtschaftspolitik?

Natürlich. Vor allem wirtschaftliche Interessen prägen das europäische Engagement auch in den Herkunftsstaaten irregulärer Migranten. Beim Zugriff auf Rohstoffe und Märkte interessieren "stabile" Vertrags- und Handelsbedingungen und nicht die politische und wirtschaftliche Lage. Auch mit Diktatoren und Unterdrückungsregimen lassen sich gute Geschäfte machen. Insbesondere die horrenden Agrarsubventionen und -überschüsse zerstören lokale Marktstrukturen und damit die Existenzgrundlagen vor allem der Kleinbauern, zum Beispiel in Westafrika. Die daraus folgende Verarmung und Perspektivlosigkeit erhöht den Migrationsdruck.

In den letzten Jahrzehnten haben ärmere Länder einen erheblichen Teil ihrer Akademiker durch Abwanderung in Industrieländer verloren. Zerstört Migration nach Europa auch Entwicklungspotenziale in diesen Ländern?

Eindeutig ja! Insbesondere die ausschließlich an Nützlichkeitskriterien orientierte Zuwanderungspolitik ist verantwortlich dafür. Es geht offensichtlich nicht darum, partnerschaftlich an Strategien zu arbeiten, die den Menschen in ihren Herkunftsländern Chancen und eine Zukunft eröffnen, sondern darum, Europa, neben Rohstoffen und Märkten, den Zugriff auf die Ressource qualifizierter Menschen zu sichern.

Wie könnte Ihrer Ansicht nach eine zukunftsweisende europäische Migrationspolitik aussehen?

Zunächst geht es darum zu begreifen und zu akzeptieren, dass die ungerechte Verteilung der Ressourcen beziehungsweise deren Nutzung sowie die ungleich verteilten Chancen, das Leben selbst gestaltend in die Hand zu nehmen, nicht biologisch festgelegt sind. Armut, Unterdrückung, Ausgrenzung und dauerhafter Ausschluss von Teilhabe haben in der Vergangenheit immer zu gesellschaftlichen oder zwischenstaatlichen Konflikten geführt. Wenn man dies verhindern oder zumindest beeinflussen will, muss ernsthaft an den Ursachen der Ungleichheit gearbeitet werden und zugleich müssen legale Wege zur Migration nach Europa eröffnet werden.

Birgit Naujoks ist Geschäftsführerin des Flüchtlingsrats des Bundeslandes Nordrhein-Westfalen.

Das Interview führte Jan-Phillip Scholz

Redaktion: Klaus Dahmann